Warum nicht alle Bio-Zwitter gleich nicht-privilegiert sind

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Dieser Post behandelt ein heikles Thema, das aber nicht einfach verschwindet, wenn es totgeschwiegen wird, und deshalb hier auch angesprochen werden soll. Da ich als "Normal-XY" darüber schreibe, habe ich versucht, es möglichst unpolemisch zu tun.

Das Privileg der Nicht-Biozwitter besteht darin, ohne Gefährdung durch Zwangsoperationen mit unversehrten äusseren und inneren Geschlechtsorganen aufgewachsen zu sein, was Nicht-Biozwitter als Gruppe von praktisch allen Biozwittern abhebt. (Einer der Konfliktpunkte, warum eine ungefragte Eingemeindung der Zwitter in LGBT fragwürdig ist und von der überwiegenden Mehrzahl der Biozwitter abgelehnt wird.)

Doch auch die Biozwitter unter sich bilden keine einheitliche Gruppe, da nicht alle Zwitter in gleichem Masse der Gefahr genitaler Zwangsoperationen und sonstiger traumatisierender Zwangsbehandlungen inkl. lebenslanger Folgen ausgesetzt sind.

Je nachdem, welcher "Syndromgruppe" ein Neugeborenes mit "uneindeutigen" Geschlechtsmerkmalen von den Medizynern zugeteilt und dann nach den entsprechenden "Leitlinien" behandelt wird, drohen vergleichsweise mehr oder weniger drastische medizinische Zwangsmassnahmen: Einige Zwitter werden "mit dem ganzen Programm" wiederholt und von klein an zwangsoperiert, andere "nur" kastriert (und oft erst nach der Pubertät) oder mit Hormonbomben traktiert. Wieder andere schlüpfen den Medizynern aus anderen Gründen ganz durch die Lappen.

Dementsprechend sind nicht alle Zwitter gleich schwer traumatisiert – auch abgesehen von den individuellen Möglichkeiten, Fähigkeiten und Kräften, mit einer Traumatisierung mehr oder weniger fertig zu werden.

Als Hinweis, was ich meine: Mein persönlicher Eindruck ist z.B., dass als CAIS diagnostizierte/"behandelte" Zwitter in der Regel mit am wenigsten Verlusten durchkommen, da sie i.d.R. "nur" zwangskastriert und belogen werden (und ersteres meist erst nach der Pubertät), während Zwitter mit der Diagnose/"Behandlung" AGS/CAH in der Regel am schlimmsten genital zwangsoperiert und/oder (prä-natal) hormonzwangstherapiert werden.

Möglicherweise ist's so besehen kein Zufall, dass CAIS-Diagnostizierte die aktuelle "Zwitterbewegung" zahlenmässig dominieren (XY-Frauen / Intersexuelle Menschen e.V. in Deutschland), während die Initiniant_innen (oder unversöhnlichsten Exponent_innen) der ursprünglichen Zwitterbewegung in den 1990ern oft aus nach AGS/CAH-"Leitlinien" mit "Penis"/"Klitoris"-Amputation "Behandelte" sind, z.B. die ISNA-Gründerin Cheryl Chase, der deutsche Ur-Aktivist Michel Reiter, oder Raketennordlicht, die Erfinderin des Kampfbegriffs "Medizyner". (Umgekehrt gibt's für Menschen mit AGS in Deutschland aktuell keine emazipatorische Selbsthilfegruppe, sondern nur eine – so besehen passend benannte – "Eltern- und Patienteninitiative").

Ebenso ist's möglicherweise kein Zufall, dass diese "Unversöhnlichen" von den übrigen Zwittern oft mehrheitlich als "zu extrem" abgelehnt oder gar angefeindet werden, und sich z.T. inzwischen wieder zurückzogen bzw. in der aktuellen Bewegung nicht mehr vertreten sind – einer Bewegung, der sie (zusammen mit weiteren Nicht-CAIS-Diagnostizierten) handkehrum "Prägung durch eine 'CAIS-Brille'" und mangelnde Radikalität vorwerfen.

Tatsächlich wird z.B. in der aktuellen Diskussion (wovon auch dieser Blog nicht ganz ausgenommen werden kann) der Problematik der Zwangskastrationen (bei CAIS) überproportional viel Platz und Gewicht eingeräumt, während z.B. prä-natale Zwangshormontherapien (bei AGS/CAH) in der Auflistung der Menschenrechtsverletzungen im IMeV-Schattenbericht unter den Tisch fielen.

Meiner bescheidenen Nicht-Biozwittermeinung nach würde die "Zwitterbewegung" an Schwung- und Durchschlagskraft gewinnen, wenn die verschiedenen Formen und Grade des Nicht-Privilegiertseins der verschiedenen Biozwitter-Untergruppen mehr und offener thematisiert und durchleuchtet würden – und danach die "Privilegierteren" nach Möglichkeit auch auf einer politischen Ebene mehr Solidarität mit den "weniger Privilegierten" zeigen würden.

Wut über das persönlich erlittene Unrecht war nicht zufällig Ausgangspunkt und Treibstoff der "Zwitterbewegung" und damit des Widerstandes gegen die Zwangsbehandlungen – und auch diese Wut musste zuerst einmal zugelassen und umgesetzt werden können.

Je mehr zu dieser Wut weiter die Fähigkeit dazukommt, auch über den eigenen "Syndromtellerrand" hinauszublicken, quasi einen Schritt zurückzutreten und von der eigenen Person, dem individuellen Schicksal nötigenfalls zu abstrahieren, umso entschlossener und effektiver können die menschenrechtswidrigen Zwangsbehandlungen als Ganzes bekämpft werden, und desto weniger werden in Zukunft die Medizyner verschiedene "Betroffenengruppen" gegeneinander ausspielen können nach dem Motto "teile und herrsche".

Siehe auch:
- Warum Nicht-Biozwitter allesamt privilegiert sind  
- "Vom Nutzen unseres Ärgers" (Von der Frauenbewegung lernen) 
- Stockholm under Water