Schweiz: Bald 5. UNO-Rüge wegen Intersex-Genitalverstümmelung?

Bild: Daniela Truffer beantwortet Fragen der CRPD-Expertinnen, Genf 24.09.2019

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IGM = Folter, NICHT 'Diskiminierung' oder 'Geschlechtsidentität'An der 12. Pre-Sessional Working Group erarbeitete das UNO-Komitee für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) einen Fragenkatalog an die Schweiz, die so genannte "List of Issues (LOI)" (CRPD/C/CHE/Q/1).

Darin verlangt CRPD von der Schweiz erstmals vertieft Auskunft über Menschenrechtsverletzungen an Intersex-Menschen, insbesondere über die unverändert von der "Invalidenversicherung (IV)" bezahlten Intersex-Genitalverstümmelungen, unter Art. 1-4 "angemessene Konsultation" (para 1), Art. 15 "grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung" (para 12), Art. 16 "Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch" (para 13) und Art. 17 "Schutz der Unversehrtheit der Person" (para 14).

Nächstes Jahr kommt es zur 1. CRPD-Staatenprüfung der Schweiz in Genf – und im Anschluss voraussichtlich zur bereits 5. UNO-Rüge wegen IGM-Praktiken an die Schweiz aufgrund eines Schattenberichts der Intersex-NGOs Zwischengeschlecht.org/StopIGM.org, Intersex.ch und SI-Global:

Seit 2015: UNO verurteilt "Intersex-Genitalverstümmelung" in der Schweiz

2015 hatte der Kinderrechtsausschuss (CRC) als erstes UNO-Vertragsorgan Genitalverstümmelungen an Intersex-Kindern in der Schweiz unmissverständlich verurteilt als "schädliche kulturelle Praxis" (Art. 24(3), worunter auch FGM fällt), gefolgt im selben Jahr vom Ausschuss gegen Folter (CAT), der IGM-Praktiken als "grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung" einstufte, die unter das absolute Folterverbot fällt (Art. 2, 12, 14, 16).

2016 dito der Frauenrechtsausschuss (CEDAW) explizit "Intersex-Genitalverstümmelung" als "schädliche kulturelle Praxis" (Art. 5, worunter auch FGM fällt).

Zuletzt 2017 klassifizierte der Menschenrechtsausschuss als Vertragsorgan des Zivilpakts (CCPR) IGM als "grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung" und "uneingewilligte medizinische oder wissenschaftliche Menschenversuche", die unter das absolute Folterverbot fallen (Art. 7, 9, 17, 24, 26).

Die Schweiz war damit das erste Land der Welt, das 4 UNO-Rügen wegen IGM als schwerwiegende Verletzungen unabdingbarer Menschenrechte verurteilten – und wird 2020 vielleicht das erste mit 5 Rügen auf dem Kerbholz.

Weltweit haben CRC, CAT, CEDAW, CRPD und CCPR aktuell 46 entsprechende UNO-Rügen wegen IGM an Vertragsstaaten ausgesprochen, darunter an Malta und Portugal, die oft irrtümlich als Positivbeispiele gelobt werden. Zum grössten Teil erfolgten die Rügen aufgrund der Berichterstattung von Zwischengeschlecht.org/StopIGM.org, oft in Zusammenarbeit mit lokalen Intersex-NGOs.

Schweiz: Zweite IGM-Berichtszyklen ab 2017

2017 startete CAT als erstes Komitee den 2. Berichtszyklus zu IGM-Praktiken in der Schweiz, und fragte die Schweiz 2018 wiederum unter Art. 16 "grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung" nach ergriffenen Massnahmen. Der 2019 publizierte Staatenreport enthält die bekannten Ausreden "die Ärzte sagen sie haben sich gebessert" und Ausflüchte "statt über unmenschliche Behandlung von Intersex-Kindern, lasst uns lieber über Gesetzesvorhaben zu einem erleichterten Wechsel des Geschlechtseintrages reden".

Im Oktober 2019 fragte CRC die Schweiz nun nach dem Stand der Umsetzung betreffend ergriffenen Schutzmassnahmen für Intersex-Kinder vor "schädlichen kulturellen Pratiken" (Art. 24(3), zusammen mit FGM und Zwangsheirat), und fragte ebenfalls, ob die "Invalidenversicherung (IV)" immer noch Genitalverstümmelungen finanziert..

Im November wird CEDAW die Liste der Follow-up-Fragen an die Schweiz publizieren.

CCPR 127: IGM in Mexico und Belgien

Gestern startete in Genf die 127. Session des Menschenrechtsausschusses (HRCttee) als Vertragsorgan des Zivilpakts (CCPR). Aufgrund von Intersex-Schattenberichten und persönlichem Zeugnis in Briefings von Brújula Intersexual, Vivir y Ser Intersex, Intersex Belgium und Zwischengeschlecht.org/StopIGM.org wird der Ausschuss diese Woche IGM-Praktiken in Belgien (Di 15-18h, Mi 10-13h CEST) und Mexico (Mi 15-18h, Do 10-13h CEST) untersuchen – beides Länder mit bereits einer IGM-Rüge auf dem Kerbholz.

>>> Intersex-Genitalverstümmelungen: Typische Diagnosen und Eingriffe
>>> Zwangsoperierte Zwitter über sich selbst und ihr Leben
>>> IGM – eine Genealogie der TäterInnen

Siehe auch:
- "Nur die Angst vor dem Richter wird meine Kollegen dazu bringen, ihre Praxis zu ändern" 
- "Schädliche medizinische Praxis": UNO, COE, ACHPR, IACHR verurteilen IGM 
- 46 UN Rügen für Intersex-Genitalverstümmelungen
"Schädliche Praxis" und "Gewalt": UN-Kinderrechtsausschuss (CRC) verurteilt IGM
- "Unmenschliche Behandlung": UN-Ausschuss gegen Folter (CAT) verurteilt IGM
- "Schädliche Praxis" zum Zweiten: UN-Frauenrechtsausschuss (CEDAW) verurteilt IGM
- UN-Menschenrechtsausschuss (HRCttee/CCPR) verurteilt IGM-Praktiken
- UN-Behindertenrechtsausschuss (CRPD) verurteilt IGM-Straflosigkeit in Deutschland

Kosmetische Klitorisamputationen an Kindern im Kispi Zürich und Insel Bern, z.B. Andrea Prader, Max Grob, Marcel Bettex, von Zwischengeschlecht.org"KOSMETISCHE KLITORISAMPUTATIONEN AN INTERSEX-KINDERN IN ZÜRICH UND BERN"
Dokumentation mit Belegen aus Publikationen aus dem Kispi Zürich und Insel Bern [OHNE OP / Genitalbilder].

 >>> Download Folien (PDF, 700 KB)

Input von Daniela Truffer zum "Fachtag Intersex"
  • IGM Überlebende – Danielas Geschichte
  • Historischer Überblick:
     "Zwitter gab es schon immer – IGM nicht!"
  • Was ist Intersex?  • Was sind IGM-Praktiken?
  • IGM in Hannover  • Kritik von Betroffenen  • u.a.m.
>>> PDF-Download (5.53 MB)