Intersex-Rechte: ILGA-Europe Report 2020 am Ziel vorbei
By seelenlos on Tuesday, February 11 2020, 20:40 - Forderungen - Permalink
Letzte Woche veröffentlichte ILGA-Europe ihren "Jahresbericht 2020 zur Menschenrechtslage von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intersex-Menschen in Europa und Zentralasien" (PDF, englisch), der sich mit "Ereignissen zwischen Januar und Dezember 2019" befasst. Was die Menschenrechte von Intersex-Menschen betrifft, so erkennt der Bericht zwar endlich die Mängel eines Landes an, das bisher unkritisch in den Himmel gelobt wurde, doch andernorts wurden entscheidende Menschenrechts-Entwicklungen ausgelassen und stattdessen schädliche Entwicklungen als "Fortschritt" gelobt.
Positiv hervorzuheben ist, dass der Report 2020 endlich die Mängel des von ILGA propagierten maltesischen Intersex-Gesetzes anerkennt, die 2019 auch vom UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes (CRC) in der Staatenprüfung von Malta kritisiert wurden, und weiter, dass Intersex-Genitalverstümmelungen (IGM) in Malta trotz des Gesetzes andauern (S. 74):
"KÖRPERLICHE UNVERSEHRTHEIT
Am 26. Juni empfahl der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes Malta, Intersex-Kinder vor allen nicht einvernehmlichen und unnötigen medizinischen oder chirurgischen Eingriffen zu schützen, die trotz des Verbots weiterhin praktiziert werden. Die Zivilgesellschaft warnte davor, dass die Sanktionen für diese schädlichen Praktiken erst 2018, drei Jahre nach der Verabschiedung des Gesetzes, eingeführt wurden und dass sie viel niedriger sind als im Falle der weiblichen Genitalverstümmelung. CRC forderte auch die Unterstützung von Familien und ihren Intersex-Kindern und die Wiedergutmachung für die Opfer".
Allerdings fehlen im ILGA-Europe Report 2020 folgende – für die Rechte von Intersex-Menschen und die wirksame Bekämpfung von IGM-Praktiken entscheidende – verbindliche UNO-Empfehlungen:
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CRC Portugal: CRC/C/PRT/CO/5-6, Abs. 28 (b), weitere Informationen (en)
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CCPR Belgien: CCPR/C/BEL/CO/6, Abs. 21-22, weitere Informationen (en)
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CAT Großbritannien: CAT/C/GBR/CO/6, Abs. 64-65, weitere Informationen (en)
Darüber hinaus fehlt im ILGA-Europe Report 2020 in Bezug auf Intersex-Menschen und IGM-Praktiken erneut die unerlässliche Unterscheidung zwischen tatsächlich hilfreichen Abschließenden Bemerkungen, die IGM explizit als eine schwerwiegende Verletzung unabdingbarer Menschenrechte einstufen, namentlich als schädliche Praxis (wie FGM), als grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung (die unter das absolute Folterverbot fällt), und als uneingewilligte medizinische oder wissenschaftliche Experimente (z.B. CRC Art. 24(3), CEDAW Art. 5, CCPR Art. 7, CAT Art. 16), im Vergleich zu tatsächlich schädlichen Empfehlungen, die Intersex-Genitalverstümmelungen zu einem "Gesundheitsthema" herabstufen, was wiederum die ärztliche Entscheidungsgewalt bekräftigt und IGM-Ärzte dabei unterstützt, ungestraft weiterzuverstümmeln, namentlich die CEDAW-Empfehlungen an Österreich und Großbritannien von 2019 unter CEDAW Art. 10 "Gesundheit", die im Report noch zu Unrecht gelobt werden.
Solche undifferenzierte Betrachtung und die unzureichende Anerkennung der rechtlichen Mindestanforderungen an einen wirksamen Schutz gegen IGM-Praktiken als schwere Verletzungen unabdingbarer Menschenrechte ist auch der Grund, warum die Gesetze in Malta, Portugal, Spanien, Argentinien usw. Intersex-Kinder letztlich im Stich lassen – und genau deshalb von den UN-Vertragsorganen kritisiert werden ...
Schlimmer noch, diese Auslassungen und Fehleinschätzungen sind KEIN Einzelfall, sondern stechen auch in anderen von hochrangigen ILGA-Mitgliedern verfassten Berichten ins Auge, z.B. in der "UNFE Background Note on Human Rights Violations against Intersex People" vom Oktober 2019.
ILGA-Europe wurde für eine Stellungnahme angefragt.
>>> Intersex-Genitalverstümmelungen: Typische Diagnosen und Eingriffe
>>> Zwangsoperierte Zwitter über sich selbst und ihr Leben
>>> IGM – eine Genealogie der TäterInnen
Siehe auch:
- "Nur die Angst vor dem Richter wird meine Kollegen dazu bringen, ihre Praxis zu ändern"
- "Schädliche medizinische Praxis": UNO, COE, ACHPR, IACHR verurteilen IGM
- 49 UN Rügen für Intersex-Genitalverstümmelungen
- "Schädliche Praxis" und "Gewalt": UN-Kinderrechtsausschuss (CRC) verurteilt IGM
- "Unmenschliche Behandlung": UN-Ausschuss gegen Folter (CAT) verurteilt IGM
- "Schädliche Praxis" zum Zweiten: UN-Frauenrechtsausschuss (CEDAW) verurteilt IGM
- UN-Menschenrechtsausschuss (HRCttee/CCPR) verurteilt IGM-Praktiken
- UN-Behindertenrechtsausschuss (CRPD) verurteilt IGM-Straflosigkeit in Deutschland
Input von Daniela Truffer zum "Fachtag Intersex"
• IGM Überlebende – Danielas Geschichte
• Historischer Überblick:
"Zwitter gab es schon immer – IGM nicht!"
• Was ist Intersex? • Was sind IGM-Praktiken?
• IGM in Hannover • Kritik von Betroffenen • u.a.m.
>>> PDF-Download (5.53 MB)