Zwitterprozess: Zwangsoperateur gibt sich geschlagen – 100'000 Euro Schmerzensgeld für genitale Zwangsoperation!

Wie Christiane Völling mitteilt, verzichtet der am 12.8.2009 zum dritten Mal in Folge verurteilte Chirurg Prof. Dr. L. auf eine Berufung und hat das Schmerzensgeld bereits überwiesen! Sieg auf der ganzen Linie für Christiane und ihren couragierten Anwalt Georg Groth!


Christiane Völling und Rechtsanwalt Dr. Georg Groth im Landgericht Köln, 6.2.08

Mit der erfolgten Zahlung kam der nunmehr über zwei Jahre dauernde Zwitterprozess schneller als erwartet zu einem historischen Ende: Zum allerersten Mal wurde in Deutschland ein Chirurg für eine nicht-eingewilligte Kastration an einem zwischengeschlechtlichen Menschen wenigstens zivilrechtlich belangt – und unterlag definitiv durch alle Instanzen! (Nachtrag: Schlussurteil LG zur Entschädigungshöhe)

Ein grosser Tag für alle zwischengeschlechtlichen Menschen und alle UnterstützerInnen in ihrem Kampf um die sofortige Beendigung der genitalen Zwangsoperationen und aller sonstigen nicht-eingewilligten Zwangseingriffe, für Selbstbestimmung und "Menschenrechte auch für Zwitter"!

Zwischengeschlecht.org gratuliert Christiane Völling – und bedankt sich auch bei allen, die ihren Kampf durch Spenden oder vor Ort unterstützten, sowie speziell bei Rechtsanwalt Georg Groth, ohne dessen Engagement der "Zwitterprozess" gar nicht erst zu Stande gekommen wäre.

Christiane Völling: "Die Öffentlichkeit aufrütteln"

Christiane Völling, die ihre Lebensversicherung auflöste, um diesen Pilotprozess führen zu können, hatte stets betont, es ginge ihr in erster Linie um die moralische Genugtuung. Sie wolle durch den Prozess die Öffentlichkeit aufrütteln und auch andere Geschädigte ermutigen, gegen ihre Zwangsbehandler zu klagen.

Zum 3. Prozesstag am 20.5.2009 hatte Christiane Völling Bundeskanzlerin Merkel und die für die Zwangsoperationen an Zwittern politisch verantwortlichen Ministerinnen Anette Schavan, Ulla Schmidt und Brigitte Zypries persönlich eingeladen. In ihrem Schreiben behielt sie sich weitere rechtliche Schritte gegen die Angeschriebenen vor und zeichnete als "Christiane Völling, zwangskastrierte Intersexuelle".

"Mein Leben lang hatte ich mich nur verborgen, eine Normalität vorgetäuscht und den Mund gehalten. Der Prozess war eine 180-Grad-Wendung", sagte sie Zwischengeschlecht.info.

"Dass es so schnell zu einem positiven Abschluss gekommen ist, kann ich noch gar nicht fassen. Ich hoffe, ich kann nun nach vorne schauen und ein neues Leben beginnen. Und dass Chirurgen es sich künftig zwei mal überlegen, bevor sie den nächsten Zwitter einfach so kastrieren."

     
Demo 1. Prozesstag, 12.12.07 (Bild: ddp / Ruhr Nachrichten

Druck auf die Bundesregierung wächst ...

Nach Christianes definitivem Sieg im Zwitterprozess wird auch die Bundesregierung, die seit 1996 die Zwangsoperationen  stets verteidigt und als "medizinisch notwendig" propagiert, künftig schlechter abstreiten können, was unter anderem kürzlich die BMBF-finanzierte "Hamburger Studie" sowie im Februar 2009 der UN-Auschuss CEDAW in einer Rüge an die Bundesrepublik an den Tag gebracht hatten, nämlich

  • dass eine Mehrzahl der Zwitter unter den kosmetischen Zwangsoperationen massiv leidet,
  • dass Zwangseingriffe an Zwittern ohne Einwilligung der Betroffenen einen Verstoss gegen Menschenrechte und Grundgesetz darstellen, insbesondere gegen GG Art. 2 Abs.2, "Recht auf körperliche Unversehrtheit", und, wie auch das OLG Köln in seinem Beschluss vom 3.9.2008 einstimmig festhielt, gegen das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper, und
  • dass kosmetische Zwangsoperationen an Zwittern auch strafrechtlich nicht haltbar sind!


Gesetzgeber gefordert: Kosmetische Genitaloperationen an Kindern

Christiane Völling hatte insofern Glück im Unglück, dass sie, nicht zuletzt Dank ihrem Anwalt Georg Groth und buchstäblich in letzter Minute vor Eintreten der absoluten Verjährung, überhaupt noch wenigstens gegen ihren ehemaligen Chirurgen klagen konnte, wenn auch nur zivilrechtlich.

Den meisten Zwangsoperierten steht dieser Weg wegen der Verjährungsfristen nicht mehr offen. Da auch heute noch Mediziner und Eltern zwangsoperierten Zwittern die Wahrheit vorenthalten und diese meist schon viel früher als Säuglinge zwangsoperiert werden, erfahren die meisten erst zu spät von ihrem Schicksal und/oder sind wegen der oft schweren Traumatisierungen durch die erlittenen Zwangseingriffe nicht in der Lage, rechtzeitig zu klagen.

Was es nunmehr endlich braucht, sind gesetzgeberische Massnahmen, um die Grundrechte der Zwitter künftig endlich praktisch und umfassend durchzusetzen – ohne dass zuerst noch Tausende Betroffenen mehr einen Leidensweg durchlaufen müssen wie Christiane Völling und Zehntausende andere auch!

Zwischengeschlecht.org fordert:

  1. Gesetzliche Massnahmen zur sofortigen Beendigung aller Zwangseingriffe an Zwittern, Aufhebung/Verlängerung der Verjährungsfristen und Bestrafung aller TäterInnen!
  2. Zwangsbehandelte Zwitter sind unverzüglich und umfassend zu entschädigen!
  3. Rechtliche Anerkennung der Zwitter inkl. optionalem 3. Geschlechtseintrag für Zwitter!
  4. Intersexualität als nicht-pathologische biologische Besonderheit muss auf allen Ebenen in allen biologischen und sozialen Fächern unverzüglich in den Lehrplan aufgenommen werden!
  5. Umgehende Schaffung verbindlicher "Standards of care", inkl. psychologischer Beratung und Peer Support, unter Einbezug der betroffenen Menschen und ihrer Organisationen! 

Christianes Prozess auf diesem Blog:
- Christiane Völlings Geschichte
- 1. Pressemitteilung
- Demoaufruf 1. Prozesstag
- Bericht 1. Prozesstag
- Zwitter-Demo in der "Rundschau" und auf "Planetopia" 
- Pressespiegel 1. Prozesstag
- Warum Christiane Völling zur Transsexuellen gemacht werden soll
- Wegen Zwitterprozess: Druck auf Ärzte wächst
- Bericht und Pressespiegel 2. Prozesstag
- Christiane: Der Kampf geht weiter
- Bericht provisorischer Entscheid OLG
- Bericht definitiver Entscheid OLG
- Pressespiegel definitiver Sieg vor OLG
- Zwitterprozess: Verurteilter Chirurg will nicht zahlen!  
- Merkel & Co: Einladung zum Zwitterprozess!
- Zwitterprozess: Verurteilter Chirurg als Gutachter für Behandlungsfehler   
- "Schmerzensgeld-Prozess" - Sat1 NRW 19.5.09
- 3. Prozesstag 20.5.09: "Netzwerk DSD" fällt Chirurgen in den Rücken
- Zwitterprozess: 100'000 Euro plus Zinsen Entschädigung für genitale Zwangsoperation
> Pressemeldungen zum "Zwitterprozess"
> Internationale Artikelübersicht auf OII    

Comments

1. On Sunday, September 6 2009, 06:59 by Anne

Was soll man dazu sagen? Wegweisend? Gerechtigkeit?
Vielleicht nur : danke Dir vielmals, Christiane !!
Ich hoffe, dass Du irgendwie ein "neues" Leben anfangen kannst und wünsche Dir von ganzem Herzen viel Glück.

2. On Sunday, December 18 2011, 17:20 by jasmin

guten abend,
es gibt die Variante 2 in 1/Recht einfach:
Schadensersatz im Strafprozess. vielleicht könnte es hilfreich für andere sein
Das ist eine Entschädigungsvariante über das Strafgericht und ist zumindest für den KlägerIn erstmal "kostengünstiger" als eine Zivilklage.
Es gibt hierfür Flyer und ein Antragsformular ist gleich dabei.
Beste Grüße und ein glückliches Neues Jahr 2012 für alle mit neuer Kraft voraus. jasmin