Tag der Menschenrechte 2023: "Jahr der Schande für Intersex-Menschenrechte in der Schweiz"

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>>> Pressemitteilung von Zwischengeschlecht.org, 18.12.2023
>>> Die Schande – Live! Protokoll + Video, Ständerat 18.12.2023

IGM = CRIME, Not 'Health Care' or 'Therapy'!Zwischengeschlecht.org on Facebook

Der 10. Dezember ist der internationale Tag der Menschenrechte. Dieser Blog veröffentlicht dazu eine Analyse zu Intersex-Menschenrechten in der Schweizer Politik am Beispiel der Rechtskommission des Ständerates (RK-S). >>> PDF (48kb)

Diese wirft gleichzeitig ein Schlaglicht auf das oft problematische Verhältnis zwischen Intersex-Menschenrechten und realexistierender LGBT(I)-Politik, u.a. wegen chronischer politischer Vereinnahmung und – hier speziell auffällig und stossend – Pinkwashing von Intersex-Genitalverstümmelung (IGM):

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Die Analyse basiert einerseits auf Daten von votepink.ch, konkret die Legislaturanalyse der "LGBTQI-Abstimmungen" (effektiv ist allerdings keine Intersex-Abstimmung darin enthalten) von Pink Cross, LOS und TGNS und dem Wahlfragebogen 2023 von Pink Cross (inkl. einer – wenn auch schwammig formulierten – Frage zu einem IGM-Verbot). Zusätzlich haben wir die Abstimmungsresultate der unseres Wissens nach einzigen Intersex-Abstimmung (Motion 22.3355) während der letzten Legislaturperiode in der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates (SK-NR) ausgewertet, sowie als Kontrast dazu weiter die Abstimmungsresultate zum Thema "Verbot von Konversionsmassnahmen" (22.3889) – beide laut offizieller Pressemitteilung vom 16.08.2023 einstimmig, aber nicht mit demselben Resultat ...

1. Einstimmig für Intersex-Genitalverstümmelung (IGM)

Als erstes fällt uns auf, egal ob links oder rechts, "LGBTI-freundlich" oder nicht, Mann oder Frau, Stadt oder Land usw. – alle StänderätInnen der Rechtskommission waren sich in der Sitzung vom 15.08-2023 ausnahmslos und einstimmig einig: Intersex-Kinder sollen in der Schweiz weiterhin straflos genitalverstümmelt werden könnenbezahlt von der "Invalidenversicherung (IV)", und trotz jahrzehntelangen Protesten Betroffener, Kritik von kritischen ÄrztInnen, der Nationalen Ethikkommission (NEK), und aktuell 8 UNO-Rügen an die Schweiz durch den Kinderrechtsausschuss (CRC) (2x), den Ausschuss gegen Folter (CAT) (2x), den Frauenrechtsausschuss (CEDAW) (2x), den Menschenrechtsausschuss (CCPR) und den Behindertenrechtsausschuss (CRPD), welche alle IGM als eine massive Verletzung unabdingbarer Menschenrechte einstufen und ein Verbot fordern.

Gleichzeitig waren in derselben Sitzung vom 15.08.2023 alle StänderätInnen der RK-S ausnahmslos und einstimmig dafür, ein "Verbot von Konversionsmassnahmen" an LGBT-Personen weiterzutreiben – und niemand, weder in der Rechtskommission noch in der öffentlichen Berichterstattung, will diesen eklatanten Widerspruch bemerkt haben ...

Schlimmer noch, ebenfalls gleichzeitig und in derselben Sitzung vom 15.08.2023 überwies die RK-S einstimmig eine eigene, für Intersex-Menschenrechte massiv schädliche Motion 23.3967, welche für das Fortdauern von IGM eine quasi-legale Grundlage schaffen und laut Bundesrat explizit die bahnbrechende Stellungnahme der Nationalen Ethikkommission (NEK) ausser Kraft setzen will – unter gütiger Mithilfe der GenitalverstümmlerInnen selbst und ihrer langjährigen UnterstützerInnen bei der "Schweizerischen Akademie für medizinische Wissenschaften (SAMW)"! Selbstregulierung durch die TäterInnen statt einem Verbot von Genitalverstümmelung – was anderswo undenkbar wäre, ist bei abartigen Intersex-Kindern einmal mehr nicht nur OK, sondern dringend "medizinisch notwendig". Und auch hier: Niemand will etwas gemerkt haben ...

2. Heuchelei, Pinkwashing – und ohrenbetäubendes Schweigen

Weiter sticht ins Auge, dass alle StänderätInnen der Rechtskommission mit einem LGBTI-Wahlfragebogen-Rating von 100%, die alle angegeben hatten, ein Verbot von unnötigen Operationen an Intersex-Kindern angeblich zu befürworten, ausnahmlos tatsächlich gegen das Verbot stimmten. Weiter auffällig das ohrenbetäubende Schweigen aller LGBT(I)-Organisationen zu dieser unsäglichen Heuchelei.

Schlimmer noch, die massiv schädliche RK-S Gegen-Motion 23.3967 wird von zwei Politikerinnen mit einem 100% LGBTI-Wahlfragenbogen-Rating als Berichterstatterinnen hauptverantwortet, welche beide angegeben hatten, angeblich ein Verbot zu befürworten.

Einerseits also PolitikerInnen, die sich öffentlich als "LGBTI-freundlich" präsentieren und sich so wählen lassen, nur um dann tatsächlich wehrlose Intersex-Kinder menschenrechtswidrigen Genitalverstümmelungen auszuliefern, andererseits LGBT(I)-Organisationen, die ihnen dazu eine Plattform bieten und dann schweigen: Auch das ist wiedermal typisch Unsichtbarmachung und Pinkwashing von Intersex-Genitalverstümmelung (IGM).

Auffällig auch, wie im Pink-Cross-Wahlfragebogen der Punkt zum IGM-Verbot schwammig formuliert ist: Während z.B. betreffend "Verbot von Konversionsmassnahmen" oder "Neutraler Geschlechtseintrag für nicht binäre Personen" die eigentliche Forderung im Haupttitel steht, heisst's betreffend IGM lediglich unverbindlich "Schutz von intergeschlechtlichen Kindern" – erst wer auf den Haupttitel klickt um ihn aufzuklappen, erfährt, dass es konkret um ein Verbot medizinisch nicht notwendiger Operationen an Intersex-Kindern geht:

Pink Cross Wahlfragebogen 2023
(zum Vergrössern reinklicken)

Wir begrüssen, dass Pink Cross die Position von PolitikerInnen zu einem IGM-Verbot erfragt. Aber wir fragen uns, weshalb und zu welchem Zweck betreffend IGM, statt schon im Haupttitel Klartext zu bringen, stattdessen schwammig drumrumformuliert wurde? Offensichtlich fassten diejenigen StänderätInnen der Rechtskommission, welche den Fragebogen ausfüllten und die Frage nach einem IGM-Verbot mit "Ja" beantworteten, dies allesamt als einen Freibrief dazu auf, dann konkret ungestraft und konsequenzenlos "Nein" stimmen zu können ... Solange Pink Cross und weitere beteiligte LGBT-Verbände dies alles widerspruchslos durchgehen lassen oder gar noch stillschweigend gutheissen, leisten sie dem dringenden und berechtigten Anliegen "Menschenrechte auch für Zwitter!" letztlich einen Bärendienst. Wir appellieren an die Solidarität aller Beteiligten, hier klar Stellung zu beziehen und es künftig besser zu machen!

2023: Jahr der Schande für Intersex-Menschenrechte in der Schweiz

Leider ist dieses schockierende, aber wenig überraschende Abstimmungsresultat in der Rechtskommission des Ständerates kein Einzelfall, sondern – nach u.a. zwei einseitig den Parteistandpunkt IGM-praktizierender Ärztinnen abbildenden SRF-Sendungen, der dazugehörigen, tief blicken lassenden Stellungnahme der SRF-Ombudsstelle, der Gründung eines angeblich "neutralen", "transdisziplinären" MedizynerInnenvereins unter Ausschluss von Intersex-Betroffenenorganisationen und der 180°-Kehrtwendung der Nationalen Ethikkommission (NEK-CNE) u.a. während der RK-S-Anhörungen – lediglich ein weiteres Beispiel für den aktuellen, u.a. durch die lokalen Intersex-Genitalverstümmlerinnen mit grossem Budget ausgerichteten, massiven Backlash gegen Intersex-Menschenrechte. Grund für uns, 2023 als "Jahr der Schande für Intersex-Menschenrechte in der Schweiz" auszurufen ... als Aufruf an alle guten Willens, 2024 für deutlich mehr Widerstand gegen Backlash und Intersex-Genitalverstümmelung zu sorgen!

(Wir danken Ephraim und Manasseh Seidenberg von prepuce.ch für den Hinweis auf votepink.ch.)

>>> Pressemitteilung von Zwischengeschlecht.org, 18.12.2023
>>> Die Schande – Live! Protokoll + Video, Ständerat 18.12.2023

Siehe auch:
- 2015-17: CH-National- und Ständerat lehnen IGM-Verbot 2x ab
- Zwitter und progressive LGBTs gegen Intersex-Vereinnahmung
- "Nur die Angst vor dem Richter wird Chirurgen dazu bringen, ihre Praxis zu ändern" 
- "Schädliche medizinische Praxis": UNO, COE, ACHPR, IACHR verurteilen IGM 
- Die ersten 50 UN Rügen für Intersex-Genitalverstümmelungen (en)
"Schädliche Praxis" und "Gewalt": UN-Kinderrechtsausschuss (CRC) verurteilt IGM
- "Unmenschliche Behandlung": UN-Ausschuss gegen Folter (CAT) verurteilt IGM
- "Schädliche Praxis" zum 2.: UN-Frauenrechtsausschuss (CEDAW) verurteilt IGM
- UN-Menschenrechtsausschuss (HRCttee/CCPR) verurteilt IGM-Praktiken
- UN-Behindertenrechtsausschuss (CRPD) verurteilt IGM-Straflosigkeit in Deutschland