"Intersexualität: Mann oder Frau - oder was?" - taz, 19.4.2010
By seelenlos on Monday, April 19 2010, 22:12 - Die Medien - Permalink
Die Zwitter Medien Offensive™ geht weiter!
Interessanter, wenn auch mitunter reichlich schönfärberischer
>>> Artikel von Eiken Bruhn über die Diskussionsveranstaltung in Bremen von letzter Woche.
Leider kolportiert der Artikel einmal mehr die stets beliebte Medizynermär von "früher war es vielleicht schlimm, aber heute ist es ganz anders". Unhinterfragt wird verkündet, "in den vergangenen zehn Jahren setzte ein Umdenken ein", bzw. "die Zeiten [haben sich] tatsächlich geändert". (Wie demgegenüber aktuelle Leitlinien, zahllose Publikationen und nicht auch zuletzt die (frisierten) Studien des "Netzwerks DSD/Intersexualität" (PDF -> S. 3 "Beschreibung des Samples") zweifelsfrei belegen, wird in Tat und Wahrheit auch in deutschen Spitälern weitgehend ungebrochen weiterverstümmelt – allein in Deutschland JEDEN TAG ein wehrloses Zwitterkind!)
Ebenfalls unhinterfragt wird ausgerechnet im Schlusssatz des Artikels eine weitere "zeitlose" Medizyner-Rechtfertigung nachgebetet: "Solange sich unsere binär strukturierte Gesellschaft nicht ändert, darf man auch von Intersexuellen nicht verlangen, die Gender-Vorreiter zu geben." Beinah wörtlich nach einem seinerzeit von vielen Zwittern kritisierten Zitat der wohl unverbesserlich zwangsoperationsgeilen Chefpsychologin des "Netzwerk DSD/Intersexualität" Ute Thyen ...
(Ums klar zu sagen: Ausser ethisch, moralisch und menschlich gestörten Medizynern und oft überforderten Eltern will niemand Zwittern etwas aufzwingen. Wenn nicht-zwangsoperierte Zwitter später OPs wollen und ihre informierte Zustimmung dazu geben, ist dies ihr gutes Recht und auch praktisch möglich – im Gegensatz zum Rückgängigmachen von irreversiblen kosmetischen Zwangsoperationen an Zwitterkindern.)
Unreflektiert über den grünen Klee gelobt wird weiter die parlamentarische Initiative vom letzten Jahr in Hamburg (die seinerzeit auch auf diesem Blog prinzipiell begrüsst wurde – allerdings wurde hier auch entsprechend kritisiert, dass die zentrale Problematik der uneingewilligten kosmetischen Genitaloperationen an Kindern in dieser Initiative mutwillig ausgeklammert wurde).
Befremdlich ist nicht zuletzt, wie der Artikel prominent im Lead vollmundig behauptet, die Bremer Grünen würden sich nun für Zwitter "engagieren". Worin dieses Engagement konkret bestehen soll, darüber schweigt sich der Artikel allerdings vornehm aus ... In deutlichem Gegensatz dazu teilte Michel Reiter, der an der Verabstaltung auf dem Podium sass und ein Impulsreferat beisteuerte (und die Veranstaltung insgesamt "eine Katastrophe fand" – wie übrigens auch diesen Blog "völlig daneben"), auf Anfrage mit: "den Grünen war keine Zusage zur Themenaufnahme zu entlocken."
Damit scheinen letztlich auch die Bremer Grünen dem (bisher konkret noch einiges unrühmlicheren) Negativbeispiel der Bundestags-Grünen zu folgen, zuerst grosse Blabla-Veranstaltungen durchzuführen, denen dann allerdings keine Taten folgen (mal abgesehen von den üblichen politischen Vereinnahmungen, zuletzt in den Grundgesetzvorstössen um Aufnahme von "sexuelle Identität" letztes Jahr im Bundesrat sowie aktuell im Bundestag dieses Jahr).
Daran kann vorerst wohl auch der im Artikel extra herausgestrichene, pragmatische Vorschlag der Rechtsprofessorin und Podiumsteilnehmerin Konstanze Plett nichts ändern, "dass kosmetische Genital-Operationen an Minderjährigen nur nach einer auf Gutachten gestützten richterlichen Entscheidung durchgeführt werden dürfen. Damit, so Pletts Hoffnung, soll sicher gestellt werden, dass die Wünsche der Kinder im Mittelpunkt stehen - und nicht die von MedizinerInnen und Eltern."
Bedenklich auch, dass im Infokasten die schnellstmögliche Beendigung der Zwangsoperationen nicht angesprochen wird, sondern es dort lediglich heisst: "Zu den Forderungen von Selbsthilfeorganisationen zählen die Durchsetzung von Entschädigungsansprüchen und die Übernahme von Behandlungskosten."
Die Zwangsoperateure freut's ...
Nachtrag 20.4.: Die ursprüngliche Version des Artikels wurde inzwischen wegen der "anstössigen" Illustration (Abbildung einer medizynischen Wachsplastik eines "intersexuellen" Genitals) nach entsprechender Kritik zensiert, einzig die Kommentare finden sich dort noch (und fehlen dafür in der neuen Version).
Neue Version: http://www.taz.de/1/nord/artikel/1/mann-oder-frau-oder-was-1/
Comments
...mir ist zudem der satz "Deshalb ist es unerträglich scheinheilig, wenn sich Gender-Studentinnen die Forderung von einigen Intersex-Aktivisten zu eigen machen, ÄrztInnen alle "geschlechtsangleichenden" Operationen zu verbieten und Eltern zu ächten, die nach solchen verlangen." nicht ganz klar..
mir klingt das erst einmal nach solidarität. mir scheint, da wirft der_die Autor_in 'sex' und 'gender' durcheinander. personen nicht zwangszuoperieren und aber ihnen die möglichkeit zu geben, ein eindeutiges gender in der gesellschaft zu entwickeln, scheint mir eher die wahrung der menschenrechte zu sein als den vergleich mit einer "androgynen lebensphase" der sog. "gender-studentinnen" zu provozieren??
hi alba, danke für deine kommentare! stimmt, dieser satz war mir auch aufgefallen, weil solches konkretes sich einmischen wäre auch, was ich mir unter solidarität vorstellen würde (was aber leider in der regel kaum der realität entspricht, wenn sich "gender-studentinnen" dem thema nähern). allerdings müsste der druck auf medizyner & eltern auch klar mit dem menschenrecht auf körperliche unversehrtheit begründet werden (in der realität kommt wie oben verlinkt das "gender-vorreiter-argument" zwar tatsächlich vor, aber eben eher von seiten der medizyner).
dass auch unoperierte zwitter sich entscheiden könn(t)en, als "eindeutiges gender in der gesellschaft" zu leben, sprich als frauen oder männer (was ihr gutes recht ist/wäre -- wie übrigens die entscheidung für ein eindeutig "uneindeutiges gender" auch), und dass das auch real geschieht, wischen die medizyner jeweils gern unter den tisch, weil sie ja zwangsoperationen an kindern verkaufen wollen, ohne die sowas angeblich nicht möglich wär. und leider bringt wie von dir bemerkt der artikel da auch meiner meinung nach was durcheinander.
hallo seelenlos,
tatsächlich habe ich an meiner uni 2001 ein seminar besucht, dass aus der soziologie unter kooperation mit der ethik der medizin gehalten wurde. dort wurde sehr gut und sensibel auf das thema eingegangen.
die OPs wurden verurteilt, auch die medizinethikerin war daran interessiert, das thema sensibel und aufklärend zu behandeln (was mich angesichts sonstiger blüten aus der medizin der uni rückblickend schon gewundert hat..).
ich selbst gebe gerade ein seminar und "erziehe" meine student_innen gleich dazu, 1. trans* und 'intersexualität' klar zu unterscheiden und 2. zu begrifen, welche forderungen bei 'intersex' im fordergrund stehen, was sozusagen den unterschied gesellschaftstheoretisch ausmacht. zudem wird ein teil des seminars die vereinnahmung durch die gender studies beinhalten, damit die studies sich klar machen und merken, wo das problem ist.
hoffentlich laufen dann fortan ein paar "gender-studentinnen" herum, die solidarisch fordern, zwangs-OPs zu unterlassen und das auch so meinen.
..kurzer nachtrag:
der artikel wurde auf einen kommentar von mir hin leicht geändert!
die abbildung des wachs-genitals wurde ersetzt. (ich hatte mokiert, dass ein solches foto wenig zur aufklärung als vielmehr zur befriedigung von voyeuerismus beiträgt, der im artikel bei ärzt_innen noch verurteilt wird.)
allerdings steht mein kommentar nicht unter dem artikel. der wurde brav totgeschwiegen. naja, war ja auch kein positiver...
hi alba, mit medizinethikerInnen machen wir z.t. auch gute erfahrungen. solange es bloss um lippenbekenntnisse geht, sogar eigentlich durchgängig mitunter schwieriger wird's dann regelmässig, wenn konkrete taten gefragt sind die medizinethikerin alice dreger hat diese problematik hier treffend umschrieben: https://blog.zwischengeschlecht.info...
konkret versuche ich seit wochen, deutsche ethikerInnen dazu zu bewegen, etwas ähnliches wie die us-kampagne gegen dexamethason auch in deutschland zu starten (handlungsbedarf wär ja mehr als genug vorhanden), doch ehrlich gesagt hab ich ausser höflichen ausreden bisher noch keine resultate verzeichnen können. falls du mir hier ev. mit kontakten / tipps weiterhelfen kannst, wär ich super froh: seelenlos at zwischengeschlecht dot info
cool, dass du "deinen" studis erklärst, was sache ist! wir haben ja auch immer noch die hoffnung, dass progressive "gender-studentinnen" und ebensolche organiserte lgbts vermehrt dazu lernen und sich anschliessend konkret solidarisieren werden. es gab und gibt (nebst leider diversen rückschlägen) vor allem seit etwa einem jahr ja immer wieder hoffnungsvolle stellungnahmen und aktionen (mehr über solche übrigens in kürze).
tja, irgendwie hat die taz wohl ihre homepage nicht ganz im griff: statt einfach das bild auszuwechseln, haben sie einen neuen artikel gemacht, und die kommentare leider nicht mitgenommen.
hallo seelenlos,
bei der suche nach guten medizinethiker_innen kann ich dir leider nicht weiterhelfen, ich weiß nur von der aus göttingen in 2001, ob die noch da ist, keine ahnung, und ob ihr reden nicht vielleicht auch nur solange hält, bis der konkrete fall auftritt, weiß ich auch nicht..
ggf. werd ich dir aber bescheid geben.
geht ja gerade erst los, dass ich mich in dem "feld" bewege. vermutlich werde ich über die eine oder andere person stolpern, die sich als unbetroffene_r zum thema beschäftigt..