D > UN-Staatenprüfung in Genf: "Intersex-Menschen in Deutschland und die Behindertenrechtskonvention (BRK)"

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>>> UN-Staatenprüfung BRK: Fragen + Antworten zu Intersex 26.03.2015
>>> Pressemitteilung von Zwischengeschlecht.org vom 25.03.2015

Zwischengeschlecht.org on FacebookDo 26. - Fr 27. März: Der  UN-Behindertenrechtsausschuss (CRPD) prüft Deutschland – IGM-Praktiken sind als Thema gesetzt!

Ein thematischer NGO-Bericht von Zwischengeschlecht.org dokumentiert Menschenrechtsverletzungen an Intersex-Menschen in Deutschland. Nachfolgend Kapitel C. "Intersex-Menschen in Deutschland und die BRK" in Deutscher Übersetzung.
>>> "D.1. IGM-Statistiken: 20 Jahre Lügen der Bundesregierung" 
>>>
"D.2. IGM: faktische Straflosigkeit, fehlender Zugang zu Justiz für Überlebende"  
>>> "E. Verweigerung lebenswichtiger Medikamente"

“Orgasmusfähigkeit leidet durch Klitorisentfernung nicht.”
Prof. Dr. Jürgen W. Bierich

Bierich german: Plastische Operationen an den Genitalien Die operative Korrektur (s. S. 476 ff.) der vermännlichten Genitalien beim kongenitalen adrenogenitalen Syndrom des Mädchens ist aus mehreren Gründen indiziert, 1. um eine regelrechte Funktion der Vagina zu ermöglichen, 2. um die unangenehmen Klitoriserektionen zu verhindern, 3. um seelische Konflikte zu vermeiden, die den Mädchen aus dem Vorhandensein männlicher Attribute erwachsen können. Nach Möglichkeit soll die Operation schon vor dem vierten Lebensjahr durchgeführt werden. Bei leichteren Fällen ist lediglich die Entfernung der Klitoris erforderlich. Das Organ soll dabei exstirpiert und nicht amputiert werden, da sich sonst lästige Erektionen des zurückgebliebenen Stumpfes einstellen können. Wie HAMPSON (1956) bei einer größeren Reihe operierter Frauen festgestellt hat, leidet die Orgasmusfähigkeit durch die Klitorisentfernung nicht. Ist das Genitale stark vermännlicht, so muß darüberhinaus die Eröffnung des Sinus urogenitalis vorgenommen werden.    Bierich english: Plastic Operations on the Genitalia The surgical correction (see p. 474 et seq.) of the masculinized genitalia of girls with the congenital adrenogenital syndrome is desirable for several reasons: (1) in order to make the vagina a functional organ; (2) in order to prevent troublesome erections of the clitoris; (3) in order to prevent psychological conflicts, which are particularly liable to occur in girls with male characteristics. Whenever possible surgery should be carried out before the children reach four years of age. In mild cases removal of the clitoris is all that is necessary. The clitoris should be totally removed and not just amputated, otherwise troublesome erections of the remaining stump may occur. As Hampson (1956) was able to show in a large series of women subjected to operation, removal of the clitoris does not interfere with the ability to achieve orgasm. If masculinization of the genitalia is more extreme further surgery may be required to open and enlarge the urogenital sinus.

Quelle: Overzier (Hrsg.): “Intersexualität” (1961, S. 387) / “Intersexuality” (1962, S. 379)

Bis zum heutigen Tag verleiht die Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie (DGE) jedes Jahr stolz ihren “Bierich Preis” – weigert sich jedoch, ihre Beteiligung an früheren und heutigen IGM-Praktiken aufzuarbeiten ...

Und die “größere Reihe operierter Frauen” , auf welche Bierich oben verweist, um angeblich zu beweisen, dass “die Orgasmusfähigkeit durch die Klitorisentfernung nicht [leidet]”, bestand aus gerade mal 6 Personen (vgl: Katrina Karkazis (2008), Fixing Sex. Intersex, Medical Authority, and Lived Experience, S. 149).

C. Intersex-Menschen in Deutschland und die BRK

Es ist wichtig festzuhalten, dass Intersex-Menschen per se nicht behindert sind, und dass lediglich eine spezifische und relativ seltene Intersex-Variante (AGS mit Salzverlust) mit einer vitalen (stoffwechselbedingten) medizinischen Behandlungsnotwendigkeit einhergeht (d.h. tägliche Substitution fehlenden Kortisols – jedoch konstituiert dies KEINE Notwendigkeit für Genitaloperationen!). Nichtsdestotrotz benutzen ÄrztInnen andauernd diese einzige Ausnahme als eine vorgebliche Rechtfertigung, um ALLEN Intersex-Menschen unnötige Genitaloperationen und weitere unnötige Behandlungen aufzuzwingen.65 Im allgemeinen betrachten sich Intersex-Meschen deshalb nicht als Menschen mit einer Behinderung. Nichtsdestotrotz beschreiben (und “behandeln”) ÄrztInnen Intersex-Varianten gewöhnlich als eine Form von Behinderung per se, meist mit rassistischen, eugenischen und nationalsozialistischen Untertönen.66 67 68 69

Als Folge von IGM-Praktiken haben andrerseits viele Intersex-Menschen tatsächliche körperliche und seelische Beeinträchtigungen und/oder bedürfen medizinischer Behandlungen (chronische Schmerzen, Verlust des sexuellen Empfindungsvermögens, lebenslängliche psychologische Traumata, Stoffwechselprobleme und Bedarf für tägliche Hormonsubstitutionen nach Kastration, etc.), sind erwerbsunfähig und leben in Armut. In Deutschland haben deshalb viele Überlebende erfolgreich Anerkennung einer Schwerbehinderung beantragt, mit anerkanntem Grad der Behinderung (GdB) bis zu 90%.

Abgesehen vom konkreten Risiko, IGM-Praktiken unterworfen zu werden, sehen sich Intersex-Menschen auf einer weiteren Ebene konfrontiert mit (Angst vor) Stigmatisierung, Ausgrenzung und Ablehnung in der Gesellschaft wegen ihrem “ungewöhnlichen Erscheinungsbild”, verstärkt durch das unablässige Heraufbeschwören eines “psychosozialen Notfalls” als angebliche Folge der Geburt eines Intersex-Kindes durch die Medizin.70 Unter zusätzlicher Betrachtung der tatsächlichen Beeinträchtigungen als Folge von IGM-Praktiken (angeblich zur Abwendung von Stigma und Ausgrenzung) sowie von (tatsächlichen und/oder wahrgenommenen) Barrieren zu einer vollständigen Teilhabe am Leben und in der Gesellschaft durch die Einstufung und (medizinische) Behandlung als “Andersartige” wenden viele Intersex-Menschen und ihre Organsiationen das soziale Modell von Behinderung an, um Strategien zu entwerfen in ihrem Kampf um körperliche Unversehrtheit und Autonomie und für gesellschaftliche Anerkennung, und viele arbeiten (offiziell oder inoffiziell) mit Behindertenorgansationen zusammen.

65 Diese Rechtfertigung stellt auch die historische Wurzel für die systematische Aufzwingung von medizinisch nicht notwendigen, frühen Genitaloperationen dar, vgl. 2014 CRC NGO Report, S. 54–56 http://intersex.shadowreport.org/public/2014-CRC-Swiss-NGO-Zwischengeschlecht-Intersex-IGM_v2.pdf

66 2014 CRC NGO Report, S. 52, 69, 84

67 Im WHO “World Atlas of Birth Defects (2nd Edition)” werden mehrere Intersex-Formen aufgeführt, einschließlich “indeterminate sex” und “hypospadias” http://www.prenatal.tv/lecturas/world%20atlas%20of%20birth%20defects.pdf

68 “The Racist Roots of Intersex Genital Mutilations” https://stopigm.org/post/Racist-Roots-of-Intersex-Genital-Mutilations-IGM

69 “Nazi-‘Erbkrankheiten’: Intersex, Rassenmischung, Hypospadie, Scheinzwittertum, Epispadie, D$D (Baur, Fischer, Lenz)” https://blog.zwischengeschlecht.info/post/2014/10/08/Rassenmischung-Intersex-Hypospadie-Scheinzwittertum-Epispadie-DSD-Baur-Fischer-LenzErblehre-Rassenhygiene

70 vgl. z.B. die letzten Deutschen Intersex-Leitlinien, AWMF 027/022 “Störungen der Geschlechtsentwicklung”, S. 5

Der gesamte 33-seitige thematische NGO-Bericht liegt vorerst nur auf Englisch vor:

>>> PDF (2.13 MB)   >>> HTML (1 MB)   >>> DOC (1.06 MB)   >>> DOCX (1 MB)

>>> UN-Staatenprüfung BRK: Fragen + Antworten zu Intersex 26.03.2015
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