D > UN-Staatenprüfung: "Intersex: Verweigerung lebenswichtiger Medikamente für Betroffene mit AGS/CAH mit Salzverlust"

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>>> UN-Staatenprüfung BRK: Fragen + Antworten zu Intersex 26.03.2015
>>> Pressemitteilung von Zwischengeschlecht.org vom 25.03.2015 

Katrin Ann Kunze, Landgericht Köln (2007): 'Wir fordern umfassende Information gegen Manipulation!'Protest von Zwischengeschlecht.org, "Weltkongress der Kinderchirurgie", Berlin 14.10.2013

Zwischengeschlecht.org on FacebookDo 26. - Fr 27. März: Der  UN-Behindertenrechtsausschuss (CRPD) prüft Deutschland – IGM-Praktiken sind als Thema gesetzt!

Ein thematischer NGO-Bericht von Zwischengeschlecht.org dokumentiert Menschenrechtsverletzungen an Intersex-Menschen in Deutschland. Nachfolgend Kapitel E.2. zu "Verweigerung lebenswichtiger Medikamente" in Deutscher Übersetzung.
>>> "C. "Intersex & BRK"   >>> "D.1. IGM-Statistiken: 20 Jahre Lügen"
>>> "D.2. IGM: faktische Straflosigkeit, fehlender Zugang zu Justiz für Überlebende"

D. In der List of Issues (LoI) nicht erwähnte Sachverhalte (Forts.)

2. Verweigerung benötigter medizinischer Versorgung (Art. 25)

Wie oben unter (C.) erwähnt, gibt es lediglich eine spezifische und relativ seltene Intersex-Variante, nämlich das sog. “Adrenogenitale Syndrom (AGS)” mit Salzverlust, die mit einer vitalen (stoffwechselbedingten) medizinischen Behandlungsnotwendigkeit einhergeht (d.h. tägliche Substitution fehlenden Kortisols – jedoch konstituiert dies KEINE Notwendigkeit für Genitaloperationen! Nichtsdestrotz instrumentalisieren MedizinerInnen diese Ausnahme andauernd als vorgebliche Rechtfertigung für die Aufzwingung von IGM-Praktiken für ALLE Menschen mit Varianten der Geschlechtsanatomie104).

Vorausgesetzt, eine passende Substitution in angemessener Dosis und Verabreichungsform ist jederzeit verfügbar, ist auch AGS mit Salzverlust per se keine Einschränkung etwa im Arbeitsleben oder beim Sport (jedoch wurden und werden die meisten Menschen mit der Diagnose AGS mit Salzverlust bereits als Kinder massiven “verweiblichenden Genitalkorrekturen” unterworfen, mit allen daraus folgenden gesundheitlichen Problemen). Nichtsdestotrotz, für betroffene Menschen bedeutet ein Fehlen angemessener Susbstitutionspräparate ein unmittelbares, tödliches Risiko.

In Deutschland ist das herkömmliche Susbtsitutionsmittel Fludrocortison (auch bekannt als 9-fluorocortisol oder 9α-fluorohydrocortison), ein synthetisches Kortikosteroid, das auf der Liste der unentbehrlichen Arzneimittel der Weltgesundheitsorganisation (WHO) steht, eine Liste der wichtigsten Arzneimittel, die für die medizinische Grundversorgung unverzichtbar sind. Fludrocortison wird gewöhnlich in Tablettenform oral eingenommen. Unter besonderen Umständen, z.B. wenn eine schnellere Aufnahme erforderlich ist, oder wenn wegen Erbrechen orale Einnahme nicht möglich ist, sind Zäpfchen mit Prednison in angemessener Dosierung für Betroffene die bevorzugte Arznei.

Die Bundesregierung wie auch pädiatrische Fachgesellschaften haben in den letzten zehn Jahren wiederholt geltend gemacht, mehrere Millionen Euro und beträchtliche Bemühungen in die Verbesserung der Lebensumstände von Intersex-Menschen investiert zu haben. Nichtsdestotrotz steht für betroffene Intersex-Menschen im Jahr 2015 die Erhältlichkeit lebenswichtiger Fludrocortison-Präparate und Prednison-Zäpfchen in geeigneter Dosierung auf dem Spiel, oder die Medikamente sind bereits nicht mehr erhältlich, während die Bundesregierung sich weigert, zu gewährleisten, dass Betroffene diese lebenswichtigen Medikamente jederzeit nach Bedarf beziehen können, und dass entsprechende Bezüge auch von der gesetzlichen Krankenversicherung gedeckt werden:

  • Ende 2014 wurden Kliniken, ÄrztInnen und Betroffene von der Arzneimittelherstellerin Merck Serono, der Herstellerin von “Astonin H,” des einzigen in Deutschland zugelassenen Fludrocortison-Präparates, darauf afmerksam gemacht, dass wegen eines “Lieferungsengpasses” von Fludrocortison “Astonin H” auf unbestimmte nicht mehr lieferbar sein wird.105 Ende Januar 2015 waren z.B. in Hamburg 50er-Packungen von “Astonin H” bereits vollständig ausverkauft, und 100er-Packungen nur noch als Re-Import begrenzt lieferbar, ohne Aussicht auf Nachlieferung. Betroffene wurden angewiesen, auf Privat-Importe von “Florinef” auszuweichen (produziert von E.R. Squibb & Sons Ltd.).106 Jedoch führen solche Privat-Importe von in Deutschland nicht zugelassenen “Off-label”-Präparaten für Betroffene zu beträchtlichen bürokratischen Umtrieben und finanziellen Risiken, das Krankenversicherer sich gewöhnlich auf den Standpunkt stellen, die Rückerstattung nicht-zugelassener Produkte sei ihnen verwehrt (vgl. dazu auch unten “Rectodelt”), und gemäß §73 Abs. 3 AMG ist lediglich der Bezug “in geringer Menge” erlaubt.107 Zusätzlich sind, im Gegensatz zu “Astonin H”, “Florinef”-Tabletten lediglich gekühlt haltbar ( 2–8°C), was die Mobilitiät z.B. bei Reisen einschränkt, und es erschwert, Notfallrationen z.B. am Arbeitsplatz verfügbar zu haben.

  • 2004 wurden “Rectodelt”-Zäpfchen mit Prednison in der Dosierung von 30 mg (sowie in den Dosierungen von 5 und 10 mg) vom Markt genommen. Lediglich Zäpfchen in der Dosierung von 100 mg sind noch erhältlich, welche jedoch als Notfallmedikament für AGS/CAH mit Salzverlust nicht geeignet sind. Auf Nachfrage wurden Betroffene informiert, die Herstellerin Trommsdorff Arzneimittel sei gezwungen gewesen, die niedrigeren Dosierungen vom Markt zu nehmen, weil die Gebühren für weitere Zulassung die zu erwartenden Gewinne überstiegen. Als eine Betroffene deshalb als Ersatz auf in einer Apotheke für sie individuell zubereitete 30 mg Zäpfchen auswich, weigerte sich der Krankenversicherer Barmer GEK, die Kosten dafür zu übernehmen mit der Begründung, es sei verboten für nicht-zugelassene “Off-Label”-Präparate aufzukommen.

Wir möchten deshalb die Anliegen und Empfehlungen der BRK-Allianz (S. 9), die Lebenssituation der bislang betroffenen Personen nachhaltig zu verbessern, bekräftigen und wie folgt präzisieren:

Empfehlung 3

Die Bundesregierung muss in enger Zusammenarbeit mit den Betroffenen und ihren Organisationen die Erhältlichkeit, Zulassung und Kostenübernahme durch die Krankenkassen für benötigte Medikamente für Betroffene, im Besonderen für Menschen mit AGS/CAH mit Salzverlust, und allgemein die Lebenssituation der bislang betroffenen Personen nachhaltig verbesern.

Innerhalb eines Jahres muss die Bundesregierung dem Ausschuss einen Zwischenbericht abliefern.

104 Diese vorgeschobene “Rechtfertigung” konstituiert auch die historische Wurzel für die systematische Aufzwingung unnötiger frühkindlicher Operationen, vgl. 2014 CRC NGO Report, S. 54–56

105 Deutsches Ärzteblatt, Jg. 111, Heft 51–52, 22.12.2014, S. A 2287

106 ebd.

Der gesamte 33-seitige thematische NGO-Bericht liegt vorerst nur auf Englisch vor:

>>> PDF (2.13 MB)   >>> HTML (1 MB)   >>> DOC (1.06 MB)   >>> DOCX (1 MB)

>>> UN-Staatenprüfung BRK: Fragen + Antworten zu Intersex 26.03.2015
>>> Pressemitteilung von Zwischengeschlecht.org vom 25.03.2015

>>> Intersex-Genitalverstümmelungen (IGM): Typische Diagnosen und Eingriffe
>>> IGM – eine Genealogie der TäterInnen
>>> Zwangsoperierte Zwitter über sich selbst und ihr Leben