Tiger Howard Devore: "Aufwachsen im chirurgischen Mahlstrom" (1997)

Ich bin inzwischen 40 Jahre alt und habe viel für meinen Heilungsprozess getan. Ich bin als Therapeut zugelassen und habe meine Erfahrung des unnötigen Leidens an der Intersextherapie dazu verwendet, um Mündigkeit von Patienten zu einem wichtigen Aspekt meiner Arbeit zu machen. Meine eigene Heilung ist durch die Zusammenarbeit mit Krebskranken noch ein ganzes Stück vorangeschritten, weil ich Menschen helfen konnte, unnötige medizinische Eingriffe zu vermeiden. Außerdem habe ich mich eingehend mit Sex und Sexualität befasst, was für mich sehr wichtig war, um zu einem Punkt zu kommen, von dem aus ich anderen Menschen helfen konnte, anstatt mich zu fühlen, als wäre ich allein auf der Welt. Dies half mir auch, zu begreifen, dass ich erfolgreiche Beziehungen haben konnte, Sexualität mit inbegriffen. Ein großer Teil der Niedergeschlagenheit und der Depressionen, die ich während meines Heranwachsens verspürte, fiel von mir ab als ich feststellte, dass sich die Ärzte und meine Eltern geirrt hatten. Sie glaubten, ich könne ohne normale Genitalien nicht glücklich sein. Als mir klar wurde, dass das nicht zutraf, änderte sich mein Leben von Grund auf.

Es war Mutters Aufgabe, mich zum Krankenhaus zu fahren und mich wieder abzuholen. Ich bin insgesamt sechzehn mal an meinen Genitalien operiert worden. Bis zum Alter von zehn Jahren schon zehn mal, ziemlich genau einmal pro Jahr. Es ist ziemlich schwierig für einen Vater, wenn sein Sohn von der Sexualnorm abweicht, und meinem fällt es bis heute schwer, darüber zu reden.

Es war schwer für meine Mutter, eine Hausfrau der fünfziger Jahre. Sie war diejenige, die all die Zeit mit den übermächtigen Ärzte-Teams zurechtkommen musste. Sie erzählte mir, wie das war, als ich geboren wurde, wie der Arzt kein Wort sagte und wie sie sich umwandte und die Schwestern zu Boden blickten, um ihr nicht in die Augen sehen zu müssen. Es wurde meinen Eltern nicht erlaubt, mich zu sehen, bis die Ärzte eine Reihe von Tests durchgeführt hatten und sich dazu durchringen konnten, mich als männlich zu klassifizieren.

Meine Kindheit war angefüllt mit Schmerz, Operationen, Hauttransplantationen und Isolation. Ich weiß noch, wie das war, wenn die Schulferien begannen, und die anderen Kinder irgendwo hinfuhren, um Spaß zu haben. Ich musste in den Ferien ins Krankenhaus, damit ich nicht zu viel vom Unterricht versäumte. Wenn die Ferien vorüber waren, kehrte ich in die Schule zurück, oft waren die letzten Operationsnarben noch nicht einmal verheilt. Manchmal hingen mir zu Schulbeginn noch die Schläuche aus dem Körper, man sah die Nähte und Narben, und ich konnte kaum laufen. Sie arrangierten für mich, dass ich die Lehrertoilette benutzen durfte. Keine Ahnung, was sie denen erzählt haben.

Ich kannte keine anderen Kinder, die so waren wie ich. Ich löcherte die Ärzte immer mit Fragen, aber sie antwort[et]en niemals darauf, außer dass ich vorsichtig sein und mich nicht beschweren sollte. Sie haben mir nie erzählt, dass es noch andere Kinder wie mich gab. Andere Kinder fuhren in die Ferien, ich fuhr in die Klinik. Kinder sind natürlich schnell darin, Andersartigkeit zu bemerken, und sie waren sehr grausam zu mir. Ich fühlte mich wie eine Missgeburt, eine Last für die gesamte Familie. Doch sie vermittelten mir, dass ich so zu tun hätte, als sei alles okay. Meine ganz private Hölle war etwas, womit ich allein fertig werden musste, und ich war sehr zurückgezogen und depressiv. Als Jugendlicher war ich nur noch hilflos und selbstmordgefährdet. Ich dachte, das sei ein guter Ausweg. Ein wenig von dem, was in mir vorging, erzählte ich der Mutter eines Freundes, die Psychotherapeutin war. Sie schickte mich zu jemandem in die Sprechstunde, der mich evaluierte und feststellte, dass ich ernsthaft selbstmordgefährdet war.

Schon früh war ich sehr streng davor gewarnt worden, mich jemals anderen Kindern unbekleidet zu zeigen und sollte sie insbesondere nicht auf meine Genitalien schauen lassen. Natürlich hatten die anderen Kinder ziemlich schnell kapiert, dass ich über all die Jahre nicht die gleiche Toilette mit ihnen benutzte oder nach den Ferien nicht laufen konnte. Ich hatte Glück, dass ich in der Grundschule den anderen Kindern meine Genitalien nicht zeigen musste. In der Mittelstufe war mir mein Psychiater dabei behilflich, dass ich zwar am Pflichtunterricht in Sport teilnehmen, aber nicht mit den anderen Jungen duschen musste. Die hätten sicher ganz schön Probleme gehabt mit dem, was sie da zu sehen bekommen hätten. Die Ärzte vertraten zwar die Meinung, man könne ein Kind mit uneindeutigen Genitalien nicht zur Schule schicken, aber die Genitalien, die sie mir dafür geschaffen hatten, sahen auf jeden Fall ziemlich merkwürdig aus.

Jedes Jahr operierten sie mich, und ich konnte zusehen und fühlen, wie die plastische Chirurgie jedes Mal wieder in sich zusammenfiel. Das hätte auch ihnen auffallen müssen – außer Arroganz und Inkompetenz gab es für viele der Eingriffe, die sie an mir ausführten, keinen Grund. Ich verbrachte viele Jahre mit chirurgischen Operationen, deren einziger Sinn darin bestand, aus meiner Penisspitze pinkel zu können ["Hypospadiekorrektur"]. Wenn sie meine Harnröhrenöffnung da gelassen hätten wo sie war: am Penisschaft nahe der Hoden, hätten mir mindestens zwölf Operationen erspart bleiben können. Und es traf nicht nur meine Genitalien. Sie entnahmen mir große Hautstücke von anderen Teilen meines Körpers, um eine Hautröhre zu schaffen, durch die ich pinkeln könnte, und die Stellen vernarbten ebenso.

Die Harnröhre, durch die die meisten Männer pinkeln, ist nicht aus normaler Haut, sondern aus speziellem Endothel, das den Kontakt mit Urin aushält und auch wenn es immer feucht und warm ist, nicht in sich zusammenfällt oder sich ständig entzündet. Die Röhre, die sie mir aus Haut von anderen Körperteilen schufen, löste sich ständig auf und ich bekomme regelmäßig Blasenentzündungen. Und ich muss mich immer noch hinsetzen beim Pinkeln. Ich war niemals ohne Fisteln, diesen Löchern in meinem Penis, wo die Methode versagt hatte. Die gesamte Harnröhre musste zweimal komplett erneuert werden, mit unfangreichen Hauttransplantaten. Wenn sie mich doch nur im Sitzen hätten pinkeln lassen, dann hätten weder ich noch meine Familie all das ertragen müssen – die Kosten, die Schmerzen, die wiederholten Operationen, die Medikamente, die immer wiederkehrenden Transplantatabstoßungen und die Fisteln aus denen der Urin floss. Ich hätte gut damit leben können, aus dem Schaft meines Penis zu pinkeln, statt aus der Spitze, aber dafür nicht in der Empfindsamkeit beeinträchtigt zu sein.

Das Versprechen, dass du im Stehen pinkeln wirst, ist einfach falsch, besonders wenn die Harnröhrenöffnung so weit unten sitzt. So ein langes Hautlappentransplantat heilt bei der starken Durchblutung der Genitalien einfach nicht ein. Ich glaube, sie wissen das längst, aber offensichtlich ist das Versprechen von Normalität und das äußere Erscheinungsbild der Genitalien für junge Eltern wichtiger als ein klares bewusstes Annehmen der Realität.

Quelle: Hanny Lightfoot-Klein: "Der Beschneidungsskandal", Orlanda 2003, S. 55-58
Original:Tiger Howard Devore: "Growing up in the Surgical Maelstrom" (ISNA) 
• In: A. Dreger (Ed): Intersex in the Age of Ethics, p 79-82
• In: Hanny Lightfoot-Klein: Children's Genitals Under the Knife, p 172-175 

>>> Ernst Bilke: "Die Wut ist gut versteckt" - Biographie mit "Hypospadie"
>>> "Sehr taube Eichel": Erfahrungsberichte zu "Hypospadiekorrekturen"
 

Dr. Tiger Howard Devore ist aktiv in der US-Selbsthilfegruppe "Hypospadias & Epispadias Association (HEA)", die sich für das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen stark macht, und spricht sich seit Jahren immer wieder öffentlich gegen kosmetische Genitaloperationen an Kindern aus. Laut John Money war Tiger Devore 1984 der erste Intersexuelle, der sich öffentlich im Fernsehen in einer Sendung mit Oprah Winfrey äusserte. Auf seiner Homepage stellt Dr. Tiger diesen und eine Vielzahl weiterer Clips zur Verfügung. Besonders eindrücklich sind seine kürzlichen Auftritte in "Intersexions" (2011) und "Genital Mutilation: America's Double Standard" (2011).

Tiger Devores autobiografischer Text "Aufwachsen im chirurgischen Mahlstrom" ist eines der eindrücklichsten Zeugnisse über den Unsinn der kosmetischer "Hypospadie KorrekturOPs" an Kindern und das dadurch verursachte, erhebliche und lebenslange Leid.

Der meines Wissens nach bekannteste deutschsprachige Betroffene, der sich zu diesem Thema ebenfalls sehr eindrücklich öffentlich äusserte, ist Ernst Bilke.

"Hypospadie" ist die wohl häufigste Diagnose für kosmetische Genitaloperationen an Kindern. Das aktuelle Medizynerhandbuch "Kinderchirurgie. Basiswissen und Praxis" (2008), Hrsg. v. Martina Heinrich und Kathrin Schäfer, nennt für das Vorkommen von "Hypospadie" für Medizyner lukrative Zahlen von "zwischen 4,7 und 8 auf 1000 männliche Lebendgeburten" (S. 192) – d.h. ein Verhältnis von 1:212 bis 1:125.

"Hypospadiekorrekturen" und andere sog. "vermännlichende genitale Korrekturoperationen" sind somit klar häufiger als kosmetische "FeminierungsOPs" sowie Kastrationen. Zum Vergleich, der aktuell an der Berliner Charité wütende, berüchtigte Kindergenitalverstümmler Prof. Dr. Martin Westenfelder brüstete sich 2010 öffentlich mit folgender Statistik:

“Prof. Martin Westenfelder gehört zu den Genitalchirurgen mit der größten Erfahrung weltweit: knapp 4.000 Hypospadien, über 140 Epispadien und 160 Feminisierungsoperationen bei intersexuellen Differenzierungsstörungen.”

Laut praktisch allen bekanntgewordenen Studien sind die Komplikationsraten bei "Hypospadiekorrekturen" sehr, sehr hoch (vgl. Zahlen von "EuroDSD"-Verstümmler Pierre Mouriquand von typischerweise 42%-57%). Viele, wenn nicht die meisten Patienten haben nach der "Behandlung" zum Teil massive Proble, die klar erst durch die "Korrekturversuche" verursacht wurden. Sogar die Medizyner selber räumen dies indirekt selbst ein durch die offizielle Diagnose "Hypospadias Cripple" für "hoffnungslose Fälle" (dt. "Hypospadie Krüppel" = von Medizynern zum "Krüppel" operiert!!!).

Ein aktuelles Ethikpapier (Karkazis/Tamar-Mattis/Kron, 2010) verdeutlicht zudem in einer bahnbrechenden Checkliste im Anhang, wie die "Hypospadie"-ZwangsbehandlerInnen die Eltern nach den genau gleichen Mustern anlügen und über den Tisch ziehen wie bei "Feminisierungen" und Kastrationen.

Trotz aller katastrophalen Resultate wird "Hypospadie" immer häufiger diagnostiziert und "behandelt", eine mögliche Zunahme des Auftretens wird mit Umweltgiften in Zusammenhang gebracht (Phtalate, Bisphenol A und andere Plastik-Weichmacher und sog. endokrine Disruptoren).

Auch "Hypospadiekorrekturen" führen zu einer Verminderung der sexuellen Empfindungsfähigkeit. US-Zwitterorganisationen und Betroffene kämpfen schon lange für die Beendigung kosmetische Genitaloperationen auch an Kindern mit "Hypospadie" (vgl. Katrina Karkazis: "Fixing Sex", S. 243f.).

Auch  deutschsprachige Zwitterorganisationen wie z.B. die AGGPG setzten sich seit den 1990ern selbstverständlich auch für die Beendigung kosmetischer "Harnröhrenverlegungen" und "Hypospadiekorrekturen" sowie anderer "vermännlichender" kosmetischer Genitaloperationen an Kindern ein.

Die AGGPG-Mitbegründerin --> Heike Bödeker-Spreitzer machte als Betroffene "vermännlichender" Zurichtung auch sonst keine Unterschiede zwischen "Klitoris- rsp. Penisplastiken".

Die UK-Aktivistin --> Sophia Siedlberg (OII) bezeichnet ebenfalls "die ihr aufgezwungenen „Maskulinisierungs“OPs als Genitalverstümmelungen und kämpft dezidiert gegen JEGLICHE Genitalverstümmelungen an Kindern. Insbesondere wehrt sie sich gegen Bagatellisierungen der maskulinisierenden Genitalverstümmelungen im Vergleich zu den feminisierenden, die sie beide als Menschenrechtsverletzungen denunziert." 

>>> IMeV-Schattenbericht CAT 2011: Häufigste Genitalverstümmelungen ausgeblendet

>>> Kosmetische GenitalOPs: Ausklammerung von "Hypospadie" unethisch 
>>> Ernst Bilke: "Die Wut ist gut versteckt" - Biographie mit "Hypospadie"
>>> "Sehr taube Eichel": Erfahrungsberichte zu "Hypospadiekorrekturen"

>>> Genitalverstümmelungen im Kinderspital: Fakten und Zahlen
>>>
150 Jahre Menschenversuche ohne Ethik und Gewissen
>>>
Genitalverstümmelungen in Kinderkliniken – eine Genealogie der Täter

Siehe auch:
- Zwangsoperierte über sich selbst und ihr Leben
- Genitalverstümmler Mouriquand: "keine Garantie für sexuelle Empfindsamkeit"
- Genitalverstümmler in Frankreich: Claire Nihoul-Fékété & Stephen Lortat-Jacob
- "Genitalkorrekturen in Deutschland in der Regel im ersten Lebensjahr" (DGKJ/APE/DGE)
- "EuroDSD"-Chef Olaf Hiort: "Intersexuelle" nur ein Bruchteil aller Verstümmelungen
- Kinderkliniken: € 8175,12 Reingewinn pro Genitalverstümmelung
- Genitalverstümmler und Zwangsoperateure in Baden-Württemberg  
- Göttingen / Lübeck: Direktor und Oberarzt propagieren genitale Zwangsoperationen
- Universitätsklinikum Heidelberg: Genitale Zwangsoperationen im Angebot 
- Lübeck: Klinikdirektor propagiert genitale Zwangsoperationen an Kindern! 
- Deutsche Urologen fordern genitale Zwangsoperationen an Säuglingen! 
- Zürcher Kinderspital propagiert Zwangskastrationen an Kindern 
- Genitalverstümmelungen im Inselspital Bern 
- Genitalverstümmelungen: "Lieber hier durchführen als im Osten" (Prof. Dr. Christian Kind)
- Chefarzt Dr. Marcus Schwöbel: genitale Zwangsoperationen an Kindern der "normale Weg" 
- Genitalverstümmelung im Kinderspital Luzern
- Prof. Dr. Heino Meyer-Bahlburg: John Moneys Erbe 
- Weiße Kittel mit braunen Kragen, reloaded
- Schweiz: Bundesrat will weibliche Genitalverstümmelung verbieten – aber die Zwitter verstümmelt nur ruhig weiter ...
- Bundestag: "Weibliche Genitalverstümmelung ahnden" - aber die Zwitter verstümmelt nur ruhig weiter ...
- Genitalverstümmelungen in Kinderkliniken: Bundesregierung beugt Grundgesetz Art. 2 (Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit)
- "Weder Evidenz noch medizinische Indikation" (Dr. med. Jörg Woweries)
- "Gott hat uns dieses Kind geschenkt, so wie es ist." (eine Mutter)
- Genitalverstümmelung in Kinderklinik: Wer sind die Täter? Was soll mit ihnen geschehen? 

Published on Tuesday, October 4 2011 by seelenlos