PRESSEMITTEILUNG - "EuroDSD": Lübecker Zwitterstudie frisiert

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Pressemitteilung von Zwischengeschlecht.org vom 14.11.2009:

Menschenrechte auch für Zwitter!

An einer Tagung in Kiel debattieren Mediziner des "EuroDSD-Consortiums" dieses Wochenende über künftige Ausweitungen der genitalen Zwangsoperationen und weiteren menschenrechtswidrigen Zwangsbehandlungen an Zwitterkindern – einmal mehr ohne Beteiligung der Betroffenen.

Am Sonntag zudem im Programm: Eine weitere Präsentation der frisierten Ergebnisse der "Lübecker Studie".

Bezahlt wurde die "Lübecker Studie", damals noch unter dem Label "Netzwerk Intersexualität/DSD" (2003-2008), vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). Eine Bedingung des BMBF war, dass die Betroffenen und ihre Organisationen angemessen mit einbezogen werden müssten. Stattdessen wurden die Betroffenen von den Netzwerk-Medizinern Mal für Mal vertröstet und hingehalten. Versprechen, Zusagen und Abmachungen wurden vom "Netzwerk Intersexualität/DSD" regelmässig gebrochen. Konkrete Vorschläge etwa von Selbsthilfegruppen zur dringlichen Verbesserung der Lage der Betroffenen wurden vom "Netzwerk DSD/Intersexualität" jeweils ignoriert bzw. gar nicht erst darauf eingetreten.

Ende 2008 veröffentlichte "erste Ergebnisse" der "Lübecker Studie" konstatierten (wie schon die ebenfalls BMBF-finanzierte "Hamburger Studie 2007") noch das Offensichtliche: Je häufiger Zwitter als Kleinkinder genital zwangsoperiert wurden, desto mehr klagen sie als Erwachsene über verlorene sexuelle Empfindungsfähigkeit und damit einhergehende weitere sexuelle Probleme. Anlässlich einer Anhörung im Bundestag in Frühjahr 2009 wurden diese Ergebnisse jedoch von VertreterInnen des "Netzwerk DSD" kurzerhand umfrisiert zur Behauptung, unabhängig von der Zahl kosmetischer Genital-OPs im Kindesalter gäbe es diesbezüglich angeblich keine Unterschiede.

Dass das "Netzwerk DSD/Intersexualität" sich nicht an die Finanzierungsvorgaben des BMBF hielt und die Betroffenen auch weiterhin als blosse Objekte behandelt, hatte für die betreffenden Mediziner bis heute keine Folgen.

Mittlerweile sind die BMBF-Gelder aufgebraucht. Die betreffenden Mediziner alimentieren sich bis 2011 von EU-Geldern und firmieren neu unter der Bezeichnung "EuroDSD Consortium". Damit müssen sie die Betroffenen neu nicht einmal mehr alibimässig miteinbeziehen.

Ohne jede Beteiligung von Betroffenen und ihren Organisationen diskutieren sie nun in Kiel weiterhin ungestört u.a. über "Erstellung bzw. Überarbeitung der Leitlinien DSD und Hypospadie" zu künftigen, menschenrechtswidrigen Zwangsbehandlungen an wehrlosen Zwitterkindern – obwohl auch "Euro-DSD"-Chef Olaf Hiort wiederholt öffentlich bestätigte, dass für diese kosmetischen Genitaloperationen weder eine medizinische Notwendigkeit noch Qualitätskontrollen bestehen.

Dabei scheut "Euro-DSD" offensichtlich das Licht der Öffentlichkeit: Die betreffenden Programmpunkte tauchten im offiziellen Onlineprogramm auf der Tagungshomepage bis zum Schluss gar nicht erst auf, sondern wurden erst mit Datum vom 27. Oktober lediglich als Download 'öffentlich' gemacht.

Die Menschenrechtsgruppe Zwischengeschlecht.org fordert:

1) Gesetzliche Massnahmen zur sofortigen Beendigung aller Zwangseingriffe an Zwittern, Aufhebung/Verlängerung der Verjährungsfristen und Bestrafung aller TäterInnen!
2) Zwangsbehandelte Zwitter sind unverzüglich und umfassend zu entschädigen!
3) Rechtliche Anerkennung der Zwitter inkl. optionalem 3. Geschlechtseintrag für Zwitter!
4) Intersexualität als nicht-pathologische biologische Besonderheit muss auf allen Ebenen in allen biologischen und sozialen Fächern unverzüglich in den Lehrplan aufgenommen werden!
5) Umgehende Schaffung verbindlicher "Standards of care", inkl. psychologischer Beratung und Peer Support, unter Einbezug der betroffenen Menschen und ihrer Organisationen! 

Vollständige Meldung mit Quellenlinks:
https://blog.zwischengeschlecht.info/post/2009/11/13/Euro-DSD%3A-4.-APE-AGPD-Jahrestagung-2009

Freundliche Grüsse

n e l l a
Daniela Truffer
Gründungsmitglied Menschenrechtsgruppe Zwischengeschlecht.org
Gründungsmitglied Schweizerische Selbsthilfegruppe Intersex.ch
Mitglied Intersexuelle Menschen e.V.
Mitglied XY-Frauen
Mobile +41 (0) 76 398 06 50
presse_at_zwischengeschlecht_dot_info

Regelmässige Updates: http://zwischengeschlecht.info

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Published on Sunday, November 15 2009 by nella

Comments

1. On Tuesday, November 24 2009, 17:48 by [Olaf Hiort]

[Antwort auf die obige Pressemitteilung per Mail]

Betreff:         AW: PRESSEMITTEILUNG - Euro-DSD: Lübecker Zwitterstudie frisiert
Datum:         Mon, 16 Nov 2009 08:53:08 +0100
Von:         Hiort, O. [Lübeck]
An:         'presse_at_zwischengeschlecht_dot_info'
CC:         Thyen, Prof. Dr. Ute [Lübeck], 'Prof. Dr. Holterhus' [Kiel], Jürgensen Martina [Lübeck]

Diese Infos sind unsachlich und unrichtig.  Es ist schade, dass Sie die Bevölkerung mit solchen Äußerungen so verunsichern.  Damit besteht keine gute Basis für eine Zusammenarbeit.

Trotzdem freundliche Grüße, Ihr Olaf Hiort

P.S.  Ich würde es begrüßen, wenn wir wüssten, wer diese Äußerungen so macht, denn "Nella"  war nicht anwesend.

2. On Tuesday, November 24 2009, 18:05 by [Paul-Martin Holterhus]

[Antwort per Email, unter Bezugnahme auf obige Antwort von Olaf Hiort]

Betreff:         AW: PRESSEMITTEILUNG - Euro-DSD: Lübecker Zwitterstudie frisiert
Datum:         Mon, 16 Nov 2009 18:32:06 +0100
Von:         Prof. Dr. Holterhus [Kiel]
An:         'Hiort, O.' [Lübeck], <presse_at_zwischengeschlecht_dot_info>
CC:         'Thyen, Prof. Dr. Ute' [Lübeck], 'Jürgensen Martina' [Lübeck], XY-Frauen, Elterngruppe XY-Frauen, 'Hertha Richter-Appelt' [Hamburg], 'Richter-Unruh, Annette' [Bochum]

Lieber Olaf,

so sehe ich das auch. Vor allem lasse ich mich nicht davon abbringen – und so war das auch auf unserem Kongress – eine sachliche und vor allem respektvolle und nicht reißerische Sprache in gegenseitiger Wertschätzung zu verwenden im Bemühen, für diejenigen intersexuellen Menschen, die dieses wünschen, in Zukunft verbesserte Diagnostik, Beratungs - und ggf. Behandlungsoptionen anbieten zu können und diese auch auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen. Alles andere erzeugt in der Tat Verunsicherung und Ängste. Viele Grüße, Paul-Martin

P.S.:

Zu einigen der erwähnten Punkte hier eine Richtigstellung / gut gemeinter Kommentar, da die Email auch an die Verfasser geht.

   1.  Die Durchführung oder Propagierung von Operationen sind nicht Thema der Projekte (sog. Workpackages) des Netzwerks Euro-DSD. Die richtige Webadresse ist: http://www.eurodsd.eu/. Dort kann man Informationen zu den Projekten finden.

   2. Die Leitlinie, die hier erwähnt wird kann unter der Webseite der AWMF (http://leitlinien.net/) nachgelesen werden. Im Stichwortfeld kann man „DSD“ eingeben, dann findet man sie leicht. Es handelt sich um die Leitlinie 027/022. Die Leitlinie ist vor ihrer Veröffentlichung der AGS Eltern – und Patienteninitiative vorgelegt worden und auch der Elterngruppe der xy-frauen e.V. vorgelegt worden. Der komplette Schriftwechsel liegt mir persönlich vor, da ich ihn selbst geführt habe. Beide Gruppen haben Kommentare formuliert. Die Kommentare beider Gruppen haben zu Änderungen des Textes geführt, die in der jetzigen Version berücksichtigt worden sind und die auch entsprechend kenntlich gemacht wurden.

      In Zukunft darf sich die Leitlinie auch den chirurgischen Maßnahmen nicht verschließen. Deshalb möchte die AG DSD der APE, die aus Endokrinologen aber nicht Operateuren besteht, chirurgische Fachexperten hinzuziehen. Es hilft ja nicht weiter, wenn chirurgische Behandlungen nicht in ein Gesamtkonzept der speziellen Diagnostik und Beratung der Intersexualität eingebunden werden. DSD kann nicht einfach „wegoperiert“ werden. Es gibt zunehmend viele versierte chirurgische und kinderurologische / urologische Kolleginnen und Kollegen, die diese Zusammenhänge mittlerweile sehr gut verstanden haben und diese Konzepte mittragen und Teil interdisziplinärer Behandlungsteams sind. Diese Entwicklung sehe ich positiv. Ich gehe i.Ü. davon aus, dass auch eine neue Auflage der Leitlinie wieder den genannten Elterninitiativen vorgelegt wird. Dieses ist mittlerweile für alle neuen Leitlinien Standard und hat mit Intersex nichts zu tun.

   3. BMBF Studie: Sowohl die Studie von Prof. Hertha Richter-Appelt, als auch die von Prof. Ute Thyen haben beide ihre Berechtigung und sie sind wichtig! Beide Studien nutzen jedoch unterschiedliche Instrumente. Für statistische Analyen ist auch wichtig, wie groß die Teilnehmerzahl ist. Bei 2 roten und 20 weißen Rosen sind 10% rot. Bei 2 roten Rosen in 400 weißen Rosen sind nur 0,5% rot. Die Ergebnisse der beiden Studien widersprechen sich m.E. nicht, denn sie beleuchten die Situation aus unterschiedlichen Blickwinkeln in unterschiedlichen Kollektiven. Sie ergänzen sich. Nicht nur in der Hamburger Studie, sondern auch in der Lübecker Studie wurde gezeigt, dass im Einzelfall ganz erhebliche Probleme bei Betroffenen bestehen können und Frau Thyen hat bei uns in Kiel eindrücklich gezeigt, dass die Zahlen entsprechend der für die Auswertung genutzten Skalen klinisch relevant sind!

3. On Tuesday, November 24 2009, 19:25 by nella

Antwort im Namen von Zwischengeschlecht.org an Paul-Martin Holterhus und die von ihm Angeschriebenen [Links für Webpublikation nachträglich eingefügt]:

Betreff:         Re: AW: PRESSEMITTEILUNG - Euro-DSD: Lübecker Zwitterstudie frisiert
Datum:       Tue, November 17, 2009 23:23
Von:       presse@zwischengeschlecht.info
An:       "Prof. Dr. Holterhus" [Kiel]
CC:       "'Hiort, O.'" [Lübeck|, "'Thyen, Prof. Dr. Ute'" [Lübeck], 'Jürgensen Martina' [Lübeck], XY-Frauen, Elterngruppe XY-Frauen, "'Hertha Richter-Appelt'" [Hamburg], "'Richter-Unruh, Annette'" [Bochum], seelenlos_at_zwischengeschlecht_dot_info

Lieber Paul-Martin Holterhus

Danke für Ihre inhaltliche Antwort. Gerne werde ich Ihre Argumente als Kommentar zu unserer Veröffentlichung hinzufügen.

Ob Sie und Olaf Hiort es glauben oder nicht, auch uns geht es um Fakten:

Nicht nur in personeller und institutioneller Hinsicht besteht durchaus eine Kontinuität zwischen dem Netzwerk Intersexualität/DSD und EuroDSD. Aus unserer Perspektive als Menschenrechtsgruppe eine besonders bedauerliche Konstante: Die mangelhafte Berücksichtigung ethischer [PDF] und menschenrechtlicher Bedenken.

An der von Ihnen erwähnten Leitlinie haben eine Elterngruppe und eine Eltern- und Patientengruppe mitgewirkt, betroffene Erwachsene waren falls überhaupt, dann höchstens sehr einseitig vertreten. Was Sie ja selbst bestätigen.

Die Leitlinie ist unbestritten ein Fortschritt im Vergleich zum Vorgänger der DGU. Leider weist sie in ethischer, menschenrechtlicher und juristischer Hinsicht nach wie vor matchentscheidenende Mängel auf.

Dass in der Leitlinie obendrein das Netzwerk-Ethikpapier als Rechtfertigung missbraucht wird, dass Eltern rechtlich die alleinige Entscheidungsgewalt hätten, unterstreicht das erwähnte, innerhalb von Netzwerk/EuroDSD offenbar prinzipiell problematische Ethik- und Menschenrechtsverständnis.

Die Diskrepanzen in den Lübecker Ergebnissen zwischen Vorabveröffentlichung und späteren Vorträgen/Publikationen sind ebenfalls Fakt.

Psychologische und soziale Unterstützung, eine Urforderung aller Selbsthilfegruppen, sind auch bei Netzwerk/EuroDSD-Behandlungszentren nach wie vor unzureichend dotiert – im Gegensatz zum chirurgischen Angebot.

Auf der anderen Seite erfahren täglich mehr Menschen von den Zwangsbehandlungen an wehrlosen Kindern vor ihrer Haustüre, sind betroffen, schockiert und empört.

Wie ich sinngemäss schon letztes Jahr in Kiel in meinem Referat sagte: kosmetische Genitaloperationen an Kindern sind in unserer Gesellschft moralisch und politisch nicht mehrheitsfähig. Und mittlerweile bekanntlich auch juristisch nicht mehr ganz unumstritten. Beteiligte Mediziner und Institutionen hätten jetzt noch die Gelegenheit, die logischen Konsequenzen zu ziehen. Solange sie es noch von sich aus können.

Freundliche Grüsse

Daniela Truffer / Zwischengeschlecht.org