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Foto: Friedlicher Intersex-Protest +
Offener Brief zum Tag der Menschenrechte, Bundeshaus Bern
10.12.2015












Die Zwitter Medien
Offensive™ geht weiter!

Gelungener Artikel von Antoinette Schwab (siehe
nachfolgend) in "Horizonte. Das Schweizerische Forschungsmagazin" mit
einem "Schwerpunkt Intersexualität", herausgegeben von "Schweizerischer
Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (SNF)" und
"Akademien der Wissenschaften Schweiz".
Soweit mal allen Beteiligten Danke!
Leider sind aber ALLE anderen "Schwerpunkt"-Artikel gelinde gesagt
eine Katastrophe, sowie quasi ein Lehrbuchbeispiel für Intersex-Vereinnahmung
durch dritte Interessengruppen. Dies beginnt schon bei der
unpassenden, durchgehenden Verwendung des Ausdrucks "Intersexualität", obwohl
u.a. die
Nationale Ethikkomission (NEK-CNE) wie auch Betroffenenorganisationen zu
Recht eindringlich von der Verwendung dieses missverständlichen Begriffs
abraten, der fälschlicherweise suggeriert, Intersex habe etwas mit "Sexualität"
zu tun. Und findet seine Fortsetzung darin, dass in den übrigen drei
"Schwerpunkt"-Artikeln sowie im einleitenden Editorial Betroffene hauptsächlich
durch Abwesenheit glänzen, während MedizynerInnen und
GeschlächzwissenschafterInnen durchgehend Rederecht eingeräumt wird, sprich es
wird einmal mehr über die Betroffenen geredet, aber nicht
mit ihnen. Folgerichtig geht es stattdessen hauptsächlich
einmal mehr nur um "das Eine", z.B.:
- "soziale Rollenzuteilung", "Identitätsentwicklung", "öffentliche
Toiletten", "Zuordnung", "uneindeutige[s] Geschlecht", "[Herstellung von]
Geschlechtseindeutigkeit", "Selbstdefinitionsrechte", "[neutrales Geschlecht
im] Pass", "Transgender-Lobbygruppen und Kunstschaffende mit selbstgewählten
Geschlechtsidentitäten" (Editorial "Geschlecht ist ein Kontinuum"
von Pascale Hofmeier, S. 2)
- "Rollen[zuweisung]", "eindeutige Vornamen", "gesellschaftliche und die
rechtliche Akzeptanz", lackierte Fingernägel, Ballett-Unterricht, Bücherlesen
vs. Stehpinkler, Lippenstift vs. Muskeln, "zwischen drei Geschlechtern
auswählen" (einleitender Bildteil "XX, XY, XXY, X und die Anderen", S.
10-11, ganzseitige Schwerpunkt-Illustrationen S. 12, 16, 21-22, Backcover S.
52)
- "vererbter Gendefekt", "Middlesex", "Störungen beziehungsweise
Abweichungen der Geschlechtsentwicklung", "normale chromosomale Verteilung",
"Wenn Kontrolle durch Gene versagt", "Mutationen", "chirurgische Entfernung von
Bauchhoden" (Artikel "Es gibt mehr als Frau und Mann" von Irène Dietschi,
mit Interview mit der Genetikerin Anna Lauber-Biason, S. 13-15)
- "beim Geschlecht auf Eindeutigkeit beharren", "Normaufweichung",
"Prinzip der heterosexuellen Zweigeschlechtlichkeit", "geschlechtlich
uneindeutige Kinder", "Transgender-Lobbygruppen", "selbstgewählte
Geschlechtsidentitäten", "geschlechtliche und sexuelle Existenzweisen",
"Diskriminierung" (Artikel "«Die Palette ist sehr vielfältig»" von Susanne
Wenger, Interview mit der "Fachfrau für Geschlechter" Andrea Maihofer – erwähnt
immerhin als einzige "Expertin": "Die Operationen an intersexuellen Kindern
werden heute richtigerweise als Menschenrechtsverletzungen thematisiert.",
S. 17)
- "amtliche Zuordnung zu einem Geschlecht", "rechtliche[r] Zwang zur
Eindeutigkeit", "zweigeschlechtliche Ordnung", "Geschlechtsidentität",
"Transsexuelle", "Vielfalt von Transgender-Identitäten", "Wechsel im
Zivilstandsregister von Mann zu Frau", "Wunschgeschlecht", die obligate
Wiederholung der Falschmeldung "In Deutschland ist es bei Kindern ohne
eindeutige Geschlechtszugehörigkeit seit 2013 möglich, den Geschlechtseintrag
nach der Geburt offen zu lassen" (angeblich eine
"Revolution"), "im Pass beim Geschlecht ein X angeben", "Kategorie
Geschlecht", "binäre Geschlechterordnung" (Artikel "Frau oder Mann, amtl.
bewilligt" von Susanne Wenger, Interview mit der Rechtswissenschaftlerin Andrea
Büchler; S. 23)
Meine 2 Cent: Dass der "Schweizerischer Nationalfonds zur
Förderung der wissenschaftlichen Forschung (SNF)" und die "Akademien der
Wissenschaften Schweiz" mit diesem "Schända"-lastigen Heft von ihrer
Mitschuld und -Verantwortung bei den andauernden
Intersex-Genitalverstümmelungen in der Schweiz abzulenken versuchen,
sowie von ihrer Weigerung, Projekte zur Aufarbeitung finanziell zu
unterstützen, während TaterInnenprojekte gern finanziert werden, ist leider
kaum überraschend. Pfui!!
Das ganze unsägliche Horizonte-Heft mit "Schwerpunkt Intersexualität" ist
online >>>
als PDF erhältlich (10 MB - TRIGGERWARNUNG!!!)
GenitalabschneiderInnen, wir kriegen euch!
ZwangsoperateurInnen, passt bloss auf!

Nachfolgend der einzige gelungene Artikel von Antoinette Schwab (und
wenig überraschend der einzige, bei dem auch Betroffene zu Wort kamen) im
Wortlaut:
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Das verordnete Schweigen
Die Medizin hat dazu beigetragen, dass Menschen mit Varianten
des biologischen Geschlechts lange kein Teil des gesellschaftlichen
Bewusstseins waren. Dies ändert sich nur langsam. Von Antoinette
Schwab
Kinder, die ohne eindeutiges Geschlecht zur Welt kommen, gab es schon
immer. Früher nannte man sie Zwitter oder Hermaphroditen, später auch
Intersexuelle. Dieser letzte Begriff sei allerdings irreführend, weil er von
Sexualität spricht: «Intersexualität handelt von Körpern, unter Umständen auch
von Krankheit, und nicht in erster Linie von Sexualität oder sexueller
Orientierung», präzisiert der Zürcher Arzt und Medizinethiker Jürg Streuli.
Seit ein paar Jahren wird deshalb die Abkürzung DSD verwendet. Sie steht für
«disorders» respektive «differences of sexual development», Varianten oder
Störungen der Geschlechtsentwicklung.
Wunsch nach Klarheit schadet
Seit den 1950er Jahren war es üblich, betroffene Kinder so bald als
möglich einem Geschlecht zuzuweisen und chirurgisch dem gewählten Geschlecht
anzupassen. Diese Praxis geht zurück auf den Sexualforscher John Money
in den USA. Zwar waren auch früher Menschen mit DSD operiert worden, doch nun
geschah das systematisch und mit theoretischer Begründung. In diesem
Zusammenhang prägte Money übrigens den Begriff Gender für soziales
Geschlecht. Er war überzeugt, dass man aus allen alles machen könne, wenn sich
nur die Umgebung entsprechend verhält. Um dies zu erleichtern, müsse das
Aussehen der Genitalien mit dem zugewiesenen Geschlecht übereinstimmen.
Genitalkorrekturen sollten daher möglichst bald nach der Geburt erfolgen. Nun
wurde jedes mit DSD geborene Kind als Notfall behandelt, auch wenn es im
medizinischen Sinne keiner war. So wurden unnötige, kosmetische Operationen bei
Kindern durchgeführt, die, wenn gewünscht, auch zu einem späteren Zeitpunkt
gemacht werden könnten. Manche, die solche Operationen in ihrer Kindheit erlebt
haben, nennen sie in Interviews und autobiografischen Berichten anders: Folter,
Genitalverstümmelung, Kindsmissbrauch.
Diagnose blieb geheim
Mindestens so schlimm wie die Operationen haben sie das verordnete
Schweigen darüber erlebt. In den Krankenakten stand: «Dem Patienten ist die
Diagnose nicht mitzuteilen.» Auch das ist eine Idee von Money. Beim Kind
sollten keinerlei Zweifel an seinem Geschlecht aufkommen. Eine paradoxe
Situation. Auf der einen Seite mussten die Kinder chirurgische Eingriffe an
ihrem Genital erleben. So wurde zum Beispiel die Klitoris – oder war es ein
Penis? - verkürzt oder ganz amputiert. Eine Neovagina wurde angelegt, die
ständig gedehnt werden musste. Früher wurde ein Metallstab dafür verwendet,
später Plastik. Und mit Verweis auf eine mögliche Krebsgefahr wurden oft auch
Hoden und Eierstöcke entfernt. Andererseits schauten ihnen Ärzte, Studierende
und Pfleger bei Kontrollen zwischen die Beine, ohne dass die Kinder wussten,
warum.
Die meisten, die sich heute artikulieren, haben nur zufällig von ihrer
Diagnose erfahren. Die Geschichten, die in Internetforen zu lesen sind, klingen
oft ähnlich: Schmerzen, Medikamente, ohne zu wissen, wofür. Scham und das
Gefühl, eine womöglich monströse Krankheit zu haben. Einige mussten gar vor
aller Welt von ihrer Diagnose erfahren. Als im Sport begonnen wurde,
Geschlechtstests durchzuführen, fand man Athletinnen mit männlichen
Chromosomen, die davon nichts gewusst hatten. Solche Tests wurden zum Teil in
den gleichen Instituten ausgewertet, die bei Kindern mit DSD zum Verschweigen
der Diagnose geraten hatten.
Die Operationen stoppen
Dass Menschen mit DSD jahrzehntelang über ihre Diagnose im Dunkeln
gelassen wurden, ist wohl auch der Grund, dass sich erst spät Widerstand gegen
die Praxis der operativen Geschlechtszuweisung regte: Anfang der 1990er Jahre
begannen sich Betroffene gegen die Standardbehandlung zu wehren. Der Widerstand
wurde stärker, als 1997 bekannt wurde, dass Money mit seinem Vorzeigefall, auf
den sich Ärzte weltweit noch immer beriefen, längst gescheitert war: der Junge
John, der im Alter von zwei Jahren zu Joan operiert wurde, wechselte mit 14
sein Geschlecht wieder und lebte als David. Er beging 2004 Suizid.
«Intersexualität handelt von Körpern und nicht von sexueller
Orientierung.»
Jürg Streuli
Auch die Schweizerin Daniela Truffer hat ihr Schicksal erst als
35-Jährige aus ihren Krankenakten erfahren. 1965 mit männlichen Chromosomen und
unklarem Genital geboren, wurde sie zum Mädchen operiert. Eine
Fehlentscheidung, wie ein Arzt später in der Krankenakte notierte. Zu spät für
sie: «Mein körperlicher Urzustand ist unwiederbringlich verloren, meine Würde
wurde mir genommen», schreibt sie in ihrem Blog. Im Internet erfuhr sie, dass
es andere gibt, die ähnliches erlebt hatten. 2007 gründete Daniela Truffer die
Menschenrechtsgruppe Zwischengeschlecht.org und kämpft seither für ein Ende
dieser Operationen und für die körperliche und seelische Integrität von
Kindern mit DSD. Denn sie ist überzeugt, dass auch heute noch ein Grossteil
der Kinder operiert wird und dass sowohl Kinder als auch Eltern nicht
vollumfänglich aufgeklärt werden.
Einiges hat die Gruppe, die auch andere Aktivisten im Ausland berät,
schon erreicht. So hat zum Beispiel das Kinderspital Zürich, das in den 1950er
Jahren eine Vorreiterrolle bei der Behandlung von DSD spielte, 2014 die
Abklärungen für eine medizinhistorische Studie in Angriff genommen, welche die
Behandlung von Menschen mit DSD evaluieren soll. Es ist die weltweit erste
Studie dieser Art.
Das Leid anerkennen
Im Auftrag des Bundesrates hat sich auch die Nationale Ethikkommission
für Humanmedizin mit dem Thema befasst. In ihrer Stellungnahme von 2012 – sie
ist weltweit wohl einmalig – empfiehlt sie unter anderem, dass alle
geschlechtsbestimmenden Behandlungsentscheide erst dann getroffen werden
sollten, wenn die zu behandelnde Person selber darüber entscheiden kann.
Eltern, auch wenn sie in ihrer Verwirrung oder Verzweiflung nach der Geburt oft
gern eine schnelle Lösung sähen, sollen also diese weitreichende Entscheidung
nicht treffen dürfen. Als erste Empfehlung auf ihrer Liste von 14 Punkten
schreibt die Kommission: «Das Leid, das manche Menschen (…) aufgrund der
vergangenen Praxis erfahren mussten, ist gesellschaftlich
anzuerkennen.»
Heute sind die Kliniken zurückhaltender. Manche der medizinisch nicht
notwendigen Operationen werden auf später verschoben. Kinder und Eltern werden
besser informiert, und im Kinderspital Zürich zum Beispiel entscheidet ein
Team über die Behandlung, in dem neben den verschiedenen medizinischen
Bereichen auch Ethik und Psychologie vertreten sind. Es existiert allerdings
keine Übersicht darüber, was wo operiert wird, und bis heute sind die
Empfehlungen der Ethikkommission nicht in verbindliche Regelungen umgesetzt
worden. Bis Ende 2015 will der Bundesrat auf die Stellungnahme
antworten.
«Das Leid, das manche Menschen aufgrund der vergangenen Praxis erfahren
mussten, ist gesellschaftlich anzuerkennen.»
Nationale Ethikkommission für Humanmedizin
Das Thema beschäftigt auch die Uno. Gleich drei Uno-Gremien äusserten
sich innerhalb eines Jahres zur Situation in der Schweiz. Unter dem Titel
«Schädliche Praktiken» zeigt sich der Ausschuss zum Schutz der Kinderrechte
tief besorgt über die chirurgischen Eingriffe. Der Menschenrechtsausschuss
fragt nach Zahlen, und der Ausschuss gegen Folter stellt fest, dass es bisher
weder zu Sanktionen noch zu Wiedergutmachungen gekommen ist, und schlägt vor,
alle nötigen Massnahmen zu ergreifen, um Integrität und Selbstbestimmung der
betroffenen Personen in Zukunft zu garantieren.
Antoinette Schwab ist freie Wissenschaftsjournalistin in Bern
Intersex.ch
Siehe auch:
-
"Schädliche Praxis" und "Gewalt": UN-Kinderrechtsausschuss
(CRC) verurteilt IGM
-
"Unmenschliche Behandlung": UN-Ausschuss gegen Folter (CAT) verurteilt
IGM
-
UN-Menschenrechtsausschuss (HRCttee) untersucht IGM-Praktiken
-
"Nur die Angst vor dem Richter wird meine Kollegen dazu bringen, ihre Praxis zu
ändern"
-
UN-Behindertenrechtsausschuss (CRPD) kritisiert IGM-Straflosigkeit in
Deutschland
-
CAT 2011: Deutschland soll IGM-Praktiken untersuchen und Überlebende
entschädigen
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Zwangsoperierte Zwitter über sich selbst und ihr Leben
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Intersex-Genitalverstümmelungen: Typische Diagnosen und Eingriffe
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IGM – eine Genealogie der TäterInnen
Input von Daniela Truffer zum
"Fachtag Intersex"
• IGM Überlebende – Danielas Geschichte
• Historischer Überblick:
"Zwitter gab es schon immer – IGM nicht!"
• Was ist Intersex? • Was sind IGM-Praktiken?
• IGM in Hannover • Kritik von Betroffenen • u.a.m.
>>>
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