© Schweizer Familie, 24.02.2005
Nummer 8/05, Seite 86
(Rubrik Gesundheit)
Das dritte Geschlecht
Es gibt Kinder, bei denen nicht klar ist, ob sie Mädchen oder Jungen
sind. Die Eltern und Fachärzte stehen dann vor heiklen
Entscheidungen.
Text: Nicole Tabanyi
Als Karin Plattner, 29, in einer milden Mainacht ihr erstes Kind zur Welt
brachte, erblickte die Hebamme Jeanette Gröbli ein hübsches Neugeborenes mit
rosigen Lippen und grossen Augen. Als ihr Blick hinunter zum Bauchnabel und
dann weiter zu den Beinchen glitt, stand ihr Herz jedoch für einen Augenblick
still. «Auf die Frage der Mutter, ob es ein Mädchen oder Junge sei, antwortete
ich: «Ich weiss es nicht»», erinnert sich die Hebamme an die Nacht, in der sie
zum ersten Mal ein Baby sah, das so offensichtlich anders war als alle
andern.
Uneindeutiges Geschlecht
Erst nach diversen Abklärungen, bei denen Blut, Urin und Chromosomensatz des
Kindes untersucht wurden, stand die Diagnose fest: Das Kind, das Karin Plattner
geboren hat, ist intersexuell. Es leidet an Pseudohermaphroditismus masculinus,
das heisst, es hat männliche Chromosomen, aber ein uneindeutiges
Genitale.
Was heute als Intersexualität bezeichnet wird, ist eines der letzten Tabus
unserer Gesellschaft: die Zweigeschlechtigkeit. In der Antike wurden so
genannte Hermaphroditen verehrt, später wurden sie aus der Gesellschaft
ausgestossen und im vergangenen Jahrhundert auf Jahrmärkten zur Schau gestellt.
Auch Karin Plattner hat bisher nur anonym über dieses Thema gesprochen und wagt
sich zum ersten Mal mit Foto an die Öffentlichkeit.
Seit den Fünfzigerjahren versuchen Chirurgen, Kindern, die intersexuell sind,
mittels Operation eine eindeutige Geschlechtszugehörigkeit zu geben. In den
Siebzigern waren solche Eingriffe gar Standard. Sie gehen auf den
US-Sexualforscher John Money zurück. Er behauptete, dass man aus Mädchen
Jungen, aus Jungen Mädchen und aus Intersexuellen sowohl Jungen als auch
Mädchen machen könne - wenn sie nur zum entsprechenden Geschlecht erzogen
würden. Diese These ist inzwischen widerlegt. Man weiss, dass Intersexuelle
nach einer Operation Grenzgänger zwischen den Geschlechtern bleiben. Und: «Ein
Neugeborenes oder ein Kleinkind sollte nicht zum Mädchen oder zum Jungen
gemacht werden», meinen viele operierte Intersexuelle empört, die sich heute
«verstümmelt», «von den Ärzten verraten» und von «den Eltern im Stich gelassen»
fühlen. Doch wie kommt es dazu, dass ein Mensch intersexuell ist? Bis zur
sechsten Woche weist jeder Embryo ein intersexuelles Genitale auf - also ein
Geschlecht, aus dem beides werden kann. Dann entwickelt sich der Embryo durch
hormonelle Impulse zum männlichen (XY-Chromosom) oder weiblichen (XX-Chromosom)
Menschen.
Auf dem Weg zur Frau oder zum Mann kann es bei den Chromosomen, Enzymen oder
Hormonen zu den verschiedensten Variationen kommen: Darum kann jemand durchaus
von der Erbanlage her weiblich oder männlich sein und trotzdem eine andere
Gestalt haben. «Mein Kind hat zwar einen männlichen Chromosomensatz, da die
Körperzellen aber teilweise resistent gegen das männliche Hormon Testosteron
sind, entwickelte sich der Körper weder eindeutig männlich noch eindeutig
weiblich: eine seltene Form der Intersexualität», sagt Karin Plattner.
20 verschiedene Formen
Ähnlich verhält es sich bei der Gruppe Intersexueller, die sich XY-Frauen
nennen: Von den Chromosomen her (Genotyp) sind XY-Frauen zwar männlich, ihr
Erscheinungsbild (Phänotyp) und ihr äusseres Genitale jedoch eindeutig
weiblich. Sie sind von andern Mädchen bis zu ihrer Pubertät nicht zu
unterscheiden. Dann allerdings bleiben bei ihnen Achsel- und Schamhaare aus,
weswegen man sie auch «Hairless-women» (Haarlose Frauen) nennt.
Nahezu zwanzig verschiedene Formen von Intersexualität werden heute
unterschieden. Im Gegensatz zur Transsexualität, bei der die Betroffenen das
Gefühl haben, durch einen Irrtum der Natur im falschen Körper zu leben, hat
Intersexualität nachweisbar biologische Ursachen.
«Intersexuelle sind Menschen, die an einer angeborenen Fehlbildung leiden,
allerdings ist diese nicht immer schon bei der Geburt sichtbar», weiss Marcus
G. Schwöbel, Chefarzt der Kinderchirurgie am Kinderspital Luzern (siehe
Interview). Bei manchen Betroffenen entdecken die Ärzte erst in der Pubertät
die Intersexualität, weil beispielsweise die Menstruation oder eben die
Schamhaare ausbleiben.
Wie oft Intersexualität vorkommt, ist schwer zu sagen. Schätzungsweise kommt
jedes 5000. bis 7000. Neugeborene so auf die Welt. Das medizinische
Nachschlagwerk «Pschyrembel Wörterbuch Sexualität» gibt sogar an, dass von 2000
Personen eine in irgendeiner Form intersexuell ist. Klaffen Chromosomen und
Erscheinungsbild auseinander, so ist die gängige Behandlung nach wie vor eine
Operation, bei der dem Kind meist vor dem zweiten Lebensjahr das intersexuelle
Genitale in die weibliche oder männliche Richtung angepasst wird.
Bei andern Operationen aber sind die Chirurgen zunehmend zurückhaltend.
Beispielsweise wenn ein intersexueller Mensch eine vergrösserte Klitoris oder
einen Hoden, aber keinen Penis hat. «Bis vor zehn Jahren haben Ärzte und Eltern
gemeinsam darüber entschieden, welche Geschlechtsidentität dem Kind gegeben
werden soll. Heute möchte man die Entscheidung vermehrt dem Kind selbst
überlassen, ob es später als Mann oder Frau leben will», sagt der Experte
Marcus G. Schwöbel.
Auch Karin Plattner will ihrem inzwischen sechsjährigen Kind keine Identität
aufzwingen. Den Termin für eine Operation haben sie und ihr Mann nach
reiflicher Überlegung abgesagt. «Die Ärzte meinten, die Gesellschaft ertrage es
nicht, wenn ein Kind anders sei als die andern, und rieten uns deshalb zu einem
Eingriff. Trotz aller Ratschläge fühlten wir uns im Stich gelassen und wussten
lange Zeit gar nicht, was los war.» Ihr Kind wächst im Moment als Mädchen auf.
Später soll es selber die Entscheidung treffen können, ob es als Mann, Frau
oder als intersexueller Mensch durchs Leben gehen möchte. «Ob sich
Intersexuelle je ganz zum einen oder andern Geschlecht zuordnen können,
bezweifle ich», sagt die Mutter. «Und sicher wird die Pubertät eine der
schwierigsten Phasen werden.»
Aufklärung ist wichtig
Nach eindrücklichen Besuchen von Treffen Intersexueller in Deutschland hat
Karin Plattner eine erste Selbsthilfegruppe für Intersexuelle in der Schweiz
gegründet. Mitinitiantin ist die Hebamme Jeanette Gröbli, die inzwischen
Weiterbildungskurse für Hebammen, Krankenschwestern und interessierte
Gruppierungen anbietet. Ziel der Kurse ist es, dem medizinische Fachpersonal
das Thema Intersexualität näher zu bringen. Zu unbändig sei der Wille der
Mediziner und Forscher, an solchen Kindern zu experimentieren, sagt die
Hebamme. Deswegen sei Aufklärung schon vor dem Gebärsaal wichtig.
«Wir wollen betroffene Kinder vor neugierigen Blicken und Übergriffen schützen
und den Eltern eine solche Odyssee ersparen», sagt Hebamme Jeanette Gröbli.
«Und vielleicht lernt unsere Gesellschaft eines Tages, dass Intersexualität
sein darf und nicht nur etwas ist, was verschwiegen und vertuscht werden
muss.»
Adresse: SI Selbsthilfe Intersexualität Schweiz; Postfach 4066; 4002 Basel;
Mail: info_at_si-global.ch
«Positive Reaktionen»
Der Arzt Marcus G. Schwöbel beschäftigt sich seit 20 Jahren mit Intersexualität
und operiert zweigeschlechtliche Kinder.
Schweizer Familie: Weshalb ist eine eindeutige Geschlechtsidentität so
wichtig?
Marcus G. Schwöbel: Eltern von Kindern, die an einem intersexuellen Genitale
leiden, stehen vor einem Dilemma. Sie fragen sich, ob ihr Kind nun ein Bub oder
ein Mädchen ist, und wollen ihrem Kind die Möglichkeit geben, eine bestimmte
Richtung zu leben. Die Idee unserer Chirurgie ist, dass wir versuchen, dem Kind
die äusseren Formen zu geben, die seiner Geschlechtsidentität am besten
entsprechen.
Bei welchen Kindern ist ein chirurgischer Eingriff denn
ratsam?
Eindeutig ist die Entscheidung dann, wenn wir dem Kind durch den Eingriff die
ihm gemässe Identität geben können. Zum Beispiel einem Mädchen, welches an
einem so genannten AGS-Syndrom leidet (weibliche Chromosomen mit Vermännlichung
des äusseren Geschlechts), den weiblichen Weg ermöglichen. Ebenso klar ist die
Entscheidung bei einem Knaben mit Hoden und einem fehlgebildeten Penis. Hier
hilft die Chirurgie, dem Patienten ein ihm gemässes Leben zu führen. Schwierig
wird die Entscheidung dann, wenn ein Kind Hoden und eine Vagina aufweist. Hier
besteht heute die Tendenz, eine Operation aufzuschieben.
In welche Richtung operieren Sie?
Da wir versuchen, jedem Kind die ihm gemässe Identität zu geben, operieren wir
etwa gleich häufig in die weibliche wie in die männliche Richtung.
Wie alt sind die Kinder bei diesen Eingriffen?
In der Regel etwa zwei Jahre alt. Bis Mitte der Neunzigerjahre war es üblich,
noch früher zu operieren, da man Fälle von Intersexualität als Notfälle
betrachtete. Die Geschlechtsidentität soll möglichst früh nach der Geburt des
Kindes vorhanden sein, so die damalige Meinung. Heute überlässt man die
Entscheidung zunehmend den Eltern, wann und ob eine Operation durchgeführt
werden soll.
Sind die Betroffenen mit der Wahl ihres Geschlechtes zufrieden?
Die wenigen Rückmeldungen von erwachsenen Patientinnen und Patienten sind fast
durchwegs positiv. Ähnliche Resultate kommen aus grösseren amerikanischen und
britischen Kliniken. Nur selten streben erwachsene Patientinnen und Patienten
einen Geschlechtswechsel an, auch wenn sie mit ihrem Aussehen nicht durchwegs
zufrieden sind.
>>> Offener Brief an das Kinderspital Luzern, 22.8.2010
>>>
Pressemitteilung vom 19.8.2010
>>>
Kosmetische Genitaloperationen im Kinderspital Luzern
>>>
"Demonstration vor dem Luzerner Kantonsspital" - zisch.ch,
22.8.10
>>>
"Der Zwang zum Geschlecht" - Zentralschweiz am Sonntag, 22.8.10
Siehe auch:
-
Chefarzt Dr. Marcus Schwöbel: genitale Zwangsoperationen an Kindern der
"normale Weg"
-
Schweiz: Terre des Femmes und Amnesty International gegen
Zwangsoperationen
-
"Der Beschneidungsskandal": Genitale Zwangsoperationen an Zwittern vergleichbar
mit weiblicher Genitalverstümmelung
-
Beschneidungsexpertin: Zwangsoperationen an Zwittern = Genitalverstümmelung Typ
IV
-
Amnesty: Zwangsoperationen "fundamentaler Verstoß" gegen körperliche
Unversehrtheit
-
Terre des Femmes: Genitalverstümmelungen an Zwittern gleich schädlich wie
weibliche Genitalverstümmelung
-
Genitale Zwangsoperationen im Inselspital Bern
-
Zürcher Kinderspital propagiert Zwangskastrationen an Zwittern
-
USA: Seriengenitalverstümmler Prof. Dr. Dix Phillip Poppas von Ethikerinnen
geoutet
-
Genitalverstümmler und Zwangsoperateure in Baden-Württemberg
-
"EuroDSD"-Chef Olaf Hiort: "Intersexuelle" nur ein Bruchteil aller
chirurgischen Genitalverstümmelungen