>>> Schweiz: Anhörungen Nationale Ethikkommission (NEK-CEK) 2011-2012
Daniela Truffer (Bild: NZZ Format, 10.03.2011)
Sehr geehrte Mitglieder der Nationalen Ethikkommission
Mein Name ist Daniela Truffer, ich bin Gründungsmitglied der Menschenrechtsgruppe Zwischengeschlecht.org. Ich möchte mich bedanken, dass ich hier im Namen der Betroffenen sprechen darf. Zahllose Betroffene setzen grosse Hoffnung in die Nationale Ethikkommission. Möge die aktuelle Anhörung dazu führen, dass endlich entscheidende Schritte unternommen werden für ein Leben in Unversehrtheit und Würde auch für Menschen mit atypischen körperlichen Geschlechtsmerkmalen.
Ihrem Wunsch entsprechend möchte ich zunächst ein wenig von mir erzählen.
Ich bin 1965 mit einem schweren Herzfehler und uneindeutigem Genitale geboren. Aufgrund meines Herzfehlers wurde ich ein paar Tage nach meiner Geburt notgetauft, da die Mediziner davon ausgingen, dass ich nicht lange überleben würde. Meine Eltern durften mich drei Monate nicht nach Hause nehmen. Mein Vater musste arbeiten, meine Mutter reiste so oft wie möglich aus dem weit entfernten Bergdorf in die Stadt, durfte mich jedoch nur durch eine Glasscheibe anschauen.
Wie die meisten Betroffenen habe ich Bruchstücke der Wahrheit über mein Schicksal erst nach Jahrzehnte langem Nichtwissen und Verdrängen aus meiner Krankenakte erfahren. Wie den meisten Betroffenen wurde auch mir vom zuständigen Spital auf Anfrage zunächst beteuert, es seien keine Akten mehr vorhanden. Erst nach weiterem Insistieren waren dann plötzlich doch noch da vorhanden und ich erhielt schliesslich einige wenige Seiten, weiter sei nichts mehr vorhanden. Erst als ich mit dem Anwalt drohte, erhielt ich einige Tage später ein dickes Paket.
Endlich hatte ich es nun schwarz auf weiss:
Aufgrund meines uneindeutigen Genitales konnten die Ärzte nicht sagen, ob ich ein Mädchen oder ein Junge bin. Später fand man Hoden im Bauchraum und einen männlichen Chromosomensatz XY. Wie 50% aller XY-Intersexuellen habe ich keine genaue Diagnose.
Der Befund meines äusseren Genitales laut Krankenakte:
Prima vista aussehend wie bei AGS. Der Penis ist 2 cm lang, das Scrotum nicht ausgebildet, sondern in Form von zwei Labia majora vorhanden. Kein Sinus urogenitalis, beim Perineum befindet sich die Mündung der Urethra.
Trotz meines lebensbedrohenden Herzfehlers wurde ich Anfang September 1965 im Alter von 2 1/2 Monaten kastriert. Meine Hoden, Nebenhoden und Samenstränge wurden in den Mülleimer geworfen. Zugleich wurde der Sinus urogenitalis zum ersten Mal "eröffnet". Diese Eingriffe wurden laut Krankenakte ohne Einwilligung meiner Eltern vorgenommen und wurden ihnen verschwiegen. Erst später entschieden sich die Ärzte dann doch anders, Zitat Krankenakte:
Entgegen dem früheren Entschluss, den Eltern nichts über die genitale Situation zu sagen, kamen wir nach reiflicher Überlegung überein, den wahren Sachverhalt trotzdem mit den Eltern zu besprechen, [...].
1. Es bestehe ein Herzvitium, welches strengster Kontrolle bedürfe.
2. Ihr Kind sei ein Mädchen und dieses Geschlecht sei ein für allemal festgesetzt.
3. Bei der Operation hatte sich folgender Befund gezeigt: es sei kein Uterus vorhanden gewesen, die Keimdrüsen seien missgebildet gewesen und hätten entfernt werden müssen. Die Vagina sei kurz.
4. Während der Pubertät, d.h. mit etwa 10 – 11 Jahren, müsse das Kind unbedingt strengestens überwacht werden, und es müsse zur rechten Zeit mit einer hormonellen Behandlung eingesetzt werden.
5. Nach der Pubertät müsse eine weitere korrektive Operation (gemeint Vaginalplastik, die Details wurden selbstverständlich nicht mit den Eltern besprochen) durchgeführt werden.
(17. September 1965)
Die Kastration wurde später als Fehler beurteilt, Zitat Krankenakte:
7. Weiteres Procedere: Ich habe den Fall unmittelbar nach der Cystoskopie nochmals mit Herrn Prof. Bettex besprochen. Es liegt seiner Ansicht nach ein männliches Geschlecht mit Hypospadie vor. Obwohl er selbst bei der früheren Beurteilung und vor der Castratio anwesend war, glaubt er retrospektiv doch, dass ein Fehler begangen wurde. Die Situation ist nun jedoch so, dass auf diesem Wege fortgefahren werden muss und aus dem kleinen Patienten ein Mädchen gemacht werden muss. Zur Frage der Vaginalplastik äussert er sich so, dass diese sobald wie möglich durchgeführt werden sollte und nicht erst dann, wenn sich das Kind darüber im Klaren wird.
Auch meine Eltern wurden laut Krankenakte weiterhin belogen und zudem angewiesen, mit niemandem "über die Geschlechtfrage" zu reden. Noch am 3.2.1972 wurden meine Eltern im Glauben gelassen, es seien "missgebildete Ovarien" entfernt worden. Zu einem anderen Zeitpunkt wurde ihnen gesagt, es sei "fraglich", ob "das Mädchen Kinder haben könne". Mir selbst gegenüber wurde noch am 21.8.1979 behauptet, ich hätte eine "Gebärmutter", die allerdings "so klein sei, dass keine Menses zu erwarten seien".
Ich wurde dann doch älter als zunächst prognostiziert. Wegen Voruntersuchungen zur Herzoperation war ich im Alter von 6 1/2 Jahren im Februar 1972 im Krankenhaus. Aufgrund einer Infektion konnten diese Voruntersuchungen jedoch nicht durchgeführt werden. Und da ich schon mal dort war, wurde kurzerhand (Zitat Krankenakte) "die Gelegenheit benutzt, die schon 1965 geplante Genitalkorrektur vorzunehmen". Zugleich erneute "Eröffnung des Sinus urogenitalis".
Aus dem Bericht nach der Operation vom 10.2.1972:
Wichtig für den Wochenenddienstarzt: Falls die Eltern Auskunft über die Kleine wünschen, ist es wichtig zu wissen, was den Eltern über das Mädchen von der "Med. Klinik " gesagt wurde. Es steht in den vorangehenden Seiten unter "Besprechung mit den Eltern".
Post. Op.: Kind zeigt die Zeichen des Schocks.Nachblut. [...]
Starke Hämatome bds. der Clitoris. Rechts bläulich-schwärzliche Verfärbung. Beginn einer Nekrose?
Schwester "Annemarie" war dann für die Wundversorgung und das "nachts beide Hände anbinden" zuständig.
Als ich die Unterlagen zu dieser Operation in meiner Krankenakte fand, dachte ich zuerst an einen Irrtum, meinte, es müsse sich um Unterlagen aus einer anderen Akte handeln. Diese Operation war so traumatisierend, dass ich sie komplett aus meinem Gedächtnis gelöscht hatte. Neben der Erkenntnis, dass ich massiv operiert wurde, hat es mich sehr erschüttert, dass ich das dermassen verdrängt hatte, weil es zu schrecklich war. Ich habe mich dadurch geschützt, hatte mir sogar eine Ersatzerinnerung zurecht gelegt, die darauf beruhte, dass meine Mutter auf mein Nachfragen sagte, dass man mir nur ein bisschen überschüssige Haut entfernt habe, ambulant.
Mit Empörung las ich weiter in der Krankenakte:
Die vorgesehene Clitorisversenkung wurde in Anwesenheit der Eltern mit dem Kinde besprochen. Daniela ist auch mit der Operation einverstanden.
Aufgrund dieser Operation habe ich wiederkehrende Phantomschmerzen, regelmässige Blasenentzündungen sowie ziehende, stechende und pulsierende Schmerzen im Genitalbereich.
Aufgrund der Kastration und der "Hormonersatztherapie" mit körperfremden Östrogenen leide ich unter Stoffwechselproblemen, Hitzewallungen, Müdigkeit, Schwindelgefühlen, und vor einigen Jahren hat man bei mir eine Vorstufe zur Osteoporose diagnostiziert.
Dennoch hatte ich Glück, denn ich habe noch sexuelle Empfindungen, wenngleich oft verbunden mit Überempfindlichkeit oder Schmerzen.
Ich kenne viele Betroffene, die keinerlei sexuelle Empfindungen mehr haben oder andere, die bei sexueller Erregung sehr starke Schmerzen haben. Ich kenne Betroffene, die haben seit Jahren eine offene Wunde zwischen den Beinen, die nicht verheilen kann. Die meisten Betroffenen, die ich kenne, haben keine sexuellen Beziehungen, sind massiv traumatisiert.
Mit achtzehn Jahren wurde bei mir eine Vaginalplastik durchgeführt, in die ich als einzige Operation bewusst einwilligte, da mir gesagt wurde, dass ich "so" nie einen Freund haben könne. Ich habe mir aber geschworen, dass es die letzte sein soll und dass ich danach nie wieder zu einem Arzt gehen würde. Nach dieser Operation hatte ich Jahre lang Alpträume, es sei nicht die letzte gewesen, es stünde mir eine ganz schlimme bevor, in der mein Rumpf vom Unterkörper getrennt werden soll.
Heute habe ich dank einer zehnjährigen Psychoanalyse einen inneren Frieden gefunden, kann wieder vermehrt Nähe und Liebe zulassen. Und dennoch ist es schwierig. Ich fühle mich wie jemand, der nach vierzig Jahren aus dem Koma erwacht ist, seine Hände betrachtet und realisiert, wie die Zeit vergangen ist und wie wenig er vom Leben hatte. Mein körperlicher Urzustand ist unwiederbringlich verloren, meine Würde wurde mir genommen.
Ich werde mein Leben lang unter den Folgen dieser menschenverachtenden Behandlung leiden. Ich bleibe Flickwerk, geschaffen von Medizinern, verletzt, vernarbt. Ich muss mich neu erfinden, wenn ich weiter leben will.
Die prägenden Gefühle aus meiner Kindheit sind Scham, Angst, Ekel, sich verstecken müssen. Die Erwachsenen schienen immer peinlich berührt, meine Eltern waren verunsichert, es wurde einfach nicht darüber geredet.
Ich kenne Betroffene, die haben Jahre lang gedacht, sie seien todkrank, weil offensichtlich etwas war, aber niemand mit ihnen Klartext reden wollte.
Die meisten Betroffenen, die ich kenne, haben ein sehr schlechtes Verhältnis zu ihren Eltern.
Dass ich als Mädchen aufgezogen wurde, war für mich nicht das Problem, ich habe auch nicht das Bedürfnis, jetzt als Mann zu leben. Traumatisierend hingegen waren die Operationen, die Schmerzen, die Angst und die Lügen.
Wäre ich heute erst geboren und in die Fänge der Mediziner geraten, wären Prof. Bettex' seinerzeitige nachträgliche Bedenken wohl von Anfang an zum Tragen gekommen: Statt Kastration und Klitorisverkürzung hätte man wohl eine chirurgische Hodenverlagerung sowie eine Hypospadiekorrektur und Penisaufrichtung durchgeführt und mich zum Jungen gemacht. Sprich: dasselbe in hellblau statt rosarot.
Ich kenne aktuell den Fall eines dreijährigen Kindes, das als Bub aufwächst. Den Eltern wurde gesagt, es brauche nur eine Hypospadieoperation und dann sei alles gut. Jetzt sind es mittlerweile schon drei "Korrekturen". Ich weiss von einer Vielzahl Betroffener, bei denen mehr als ein Dutzend mal "nachgebessert" werden musste. Die ursprünglich keine medizinischen Probleme hatten, mittlerweile aber heftige. Die Mediziner selbst bezeichnen solche Fälle zynischerweise als "Hypospadiekrüppel".
Auch dem obigen Kind wird es wohl wenig nützen, ob es sich nun in der Geschlechterrolle wohl fühlt oder nicht, denn es wird wegen diesen uneingewilligten kosmetischen Eingriffen sein Leben lang psychische und physische Probleme haben.
Auch bei XX-Intersexuellen liegt bei allen mir persönlich bekannten Beispielen die eigentliche Problematik nicht darin, ob sie nun chirurgisch zu Mädchen oder zu Buben gemacht werden, sondern in den psychischen und physischen Folgen dieser uneingewilligten irreversiblen Eingriffe im Kindesalter.
Als problematisch ist in diesem Zusammenhang auch einzustufen, dass in der Schweiz solche Eingriffe über die Invalidenversicherung als Geburtsgebrechen lediglich bis zum 20. Altersjahr übernommen werden, was den Druck der behandelnden Ärzte auf möglichst frühzeitige Operationen zusätzlich erhöht.
Ich selbst bin wohl nur dank Psychotherapie überhaupt noch am Leben und in der Lage, heute hier vor Ihnen zu sprechen. Als besonders stossend empfinde ich dabei, dass für die aus meiner Perspektive verstümmelnden Eingriffe die Kosten stets problemlos übernommen wurden, ich jedoch anschliessend gezwungen war, ein Drittel der Kosten meiner Psychotherapie aus der eigenen Tasche zu bezahlen.
Mir persönlich ist es nicht möglich, auf eine adäquate Hormonersatztherapie mit Testosteron umzusteigen, da dann mein "versenktes" beziehungsweise eingenähtes Genital zu wachsen beginnt, was zu starken Schmerzen führt. Ich kenne jedoch zahlreiche kastrierte XY-Intersexuelle, denen es mit Testosteron viel besser geht als mit Östrogen. Das Testosteron müssen diese jedoch, im Gegensatz zum sie krankmachenden Östrogen, aus der eigenen Tasche bezahlen.
Ich kenne weiter Betroffene, die als Frau leben, denen der Abschluss einer Versicherung zusammen mit dem Partner verweigert wurde, weil herauskam, dass sie chromosomal männlich sind.
Ich kenne eine Betroffene, der kurz vor Abschluss des Adoptionsverfahrens die Adoption eines lang ersehnten Kindes verweigert wurde, weil herauskam, dass sie chromosomal männlich ist.
Denselben Problemen sehen sich umgekehrt auch XX-Intersexuelle ausgesetzt, die als Männer leben.
Allen Lippenbekenntnissen der behandelnden Mediziner zum Trotz werden heute noch 90% aller Kinder und Jugendlichen durchschnittlich mehrfach genitaloperiert, werden die Hälfte der Kinder und 20% der Jugendlichen nach wie vor gar nicht oder unzureichend aufgeklärt. Weiter beurteilen Eltern "die behandelnden Ärzte/Ärztinnen schlechter als Eltern von Kindern mit anderen chronischen Erkrankungen", was unter anderem darauf schliessen lässt, dass auch Eltern heute noch nicht vollumfänglich aufgeklärt werden.
Wie alle mir bekannten Betroffenen hätte auch ich mir komplette Aufklärung gewünscht und keine Operationen ohne meine informierte Zustimmung. Das wäre sicher alles auch nicht einfach gewesen, aber mit dem Gefühl leben zu müssen, dass über einen bestimmt wurde, macht einen kaputt. Und mit den Narben und Schmerzen, mit den psychischen Problemen und mit den gesundheitlichen Folgen. Sofern nicht eine lebensbedrohliche Situation oder sonst eine unmittelbare, zwingende medizinische Indikation vorliegt, dürfen solche schwerwiegenden Entscheide deshalb nur von den Betroffenen selbst gefällt werden.
Mediziner sollen künftig nur für medizinisch notwendige Behandlungen zugezogen werden. Ansonsten sollen spezialisierte Psychologen und Sozialpädagogen Ansprech- und Kontaktpersonen für die Eltern sein. Für den berühmten "psychosozialen Notfall" der Eltern braucht es ein Skalpell am Kind, sondern psychologische und sozialpädagogische Betreuung für die Eltern, und gegebenenfalls später auch für die betroffenen Kinder und Jugendlichen selbst.
Seit bald 20 Jahren klagen Betroffene die Zerstörung der sexuellen Empfindsamkeit und die Missachtung der körperlichen Unversehrtheit öffentlich an und fordern die Beendigung uneingewilligter kosmetischer Eingriffe, das Recht auf vollumfängliche Aufklärung und Selbstbestimmung, die Aufarbeitung eines dunklen Kapitels der Medizingeschichte und eine gesellschaftliche Aussöhnung.
Im Namen der heutigen Betroffenen, vor allem aber im Namen der heute noch Ungeborenen, bitte ich die Nationale Ethikkommission inständig um Hilfe, für ein Leben in Unversehrtheit und Würde auch für uns. Vielen Dank!
>>> Schweiz: Anhörungen Nationale Ethikkommission (NEK-CEK) 2011-2012
>>> Schriftliche Stellungnahme von Zwischengeschlecht.org (PDF, 460 kb)
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