Ethikrat Forum 1: "Medizinische Behandlung – Indikation – Einwilligung"

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>>> "Um den heißen Brei geredet" - Video-Statement

Statement von Daniela "Nella" Truffer für die Menschenrechtsgruppe Zwischengeschlecht.org anläßlich der Anhörung des Deutschen Ethikrates, 08.06.2011:

>>> Statement als PDF (ohne Links in Fussnoten, 62 KB)

Kann ein Zwitter Sünde sein?

1. "Medizinische Behandlung – Indikation – Einwilligung"

Seit 1950 [1] propagieren und praktizieren Endokrinologen, Kinderchirurgen und weitere Mediziner kosmetische Genitaloperationen und andere medizinisch nicht notwendige Eingriffe an Kleinkindern mit atypischen Genitalien – weil sie die Erfahrung machten, dass die Eltern möglichst früh am leichtesten zu einer Zustimmung zu bewegen sind [2]. 1955 lieferte ein Sexologe nachträglich eine angeblich wissenschaftliche Begründung nach [3]. Die angebliche Wirksamkeit dieser Eingriffe konnten sie bis heute nie mit zufriedenstellender Evidenz belegen. [4]

Seit bald 20 Jahren klagen Überlebende die verheerenden Folgen dieser Praktiken öffentlich an [5], darunter Verlust der sexuellen Empfindsamkeit, schmerzende Narben im Genitalbereich, gesundheitliche Schäden infolge Kastration, Traumatisierung durch die aufgezwungenen Behandlungen, und fordern ihre Beendigung. Seit 13 Jahren fordern auch kritische Mediziner, dass solche Eingriffe nur noch im Rahmen kontrollierter Studien durchgeführt werden sollen, solange weiterhin keine Evidenz vorliegt [6]. Die Antwort der verantwortlichen Behandler darauf bis heute: Ablenkungsmanöver, Ausreden, Spott und Hohn [7] – sicher im Wissen, dass sie wegen der Verjährung juristisch kaum je belangt werden können [8].

Wir fordern ein gesetzliches Verbot aller kosmetischen Genitaloperationen und kosmetischen Hormonbehandlungen an Kindern und Jugendlichen in Verbindung mit einer Aufhebung, Aussetzung oder Verlängerung der Verjährung, wie diese auch bei weiblicher Genitalverstümmelung und sexualisierter Gewalt an Kindern gefordert wird.

Eltern haben kein Recht, für ihre Kinder kosmetischen Genitaloperationen und kosmetischen Hormonbehandlungen zuzustimmen. Solche Eingriffe verletzen das Recht auf körperliche Unversehrtheit der Kinder und berühren ihre höchstpersönlichen Rechte.

Erlaubt bleiben sollen einzig medizinisch zwingend notwendige Eingriffe, d.h. Eingriffe, deren Aufschiebung irreversible körperliche medizinische Beschwerden zur Folge hätte, z.B. chirurgische Eingriffe zur Behebung von Verschlüssen oder Behinderungen im harnableitenden System und Hormonbehandlungen z.B. bei Cortisolmangel oder zur Aufschiebung vorzeitiger Pubertät.

Zu diskutieren wäre höchstens eine Einwilligung in kosmetische Eingriffe für Jugendliche ab 16 Jahren in Verbindung mit einer gerichtlichen Genehmigungspflicht, die dann bis zum vollendeten 21. Lebensjahr verbindlich sein soll.

Erwachsene sollen freien Zugang auch zu kosmetischen Behandlungen haben, gegebenenfalls in Verbindung mit einer gerichtlichen Genehmigung bis zum vollendeten 21. Lebensjahr.

Führt das Unterlassen medizinisch nicht notwendiger Eingriffe zu von der betroffenen Person nicht gewünschten irreversiblen hormonellen Veränderungen (Virilisierung oder Feminisierung infolge Pubertät), sind reversible pubertätsaufschiebende Maßnahmen zugänglich zu machen, bis die betroffene Person gegebenenfalls selbst auch zu medizinisch nicht notwendigen Eingriffen ihre Zustimmung geben kann.

Eltern und Betroffene sind vollumfänglich zu informieren. Die Aufbewahrungsfrist für Krankenakten ist auf 75 Jahre zu verlängern.

Bisher werden Eltern zu 90% [9] ausschließlich von Endokrinologen und Kinderchirurgen beraten und betreut. Werden überhaupt Psychologen und Sozialpädagogen hinzugezogen, so spielen sie im "multiprofessionellen Team" höchstens eine Nebenrolle. Wir fordern, dass stattdessen spezialisierte Psychologen und Sozialpädagogen Ansprech- und Kontaktpersonen für die Eltern sein sollen. Mediziner sollen nur für medizinisch notwendige Behandlungen zugezogen werden. Für den berühmten "psychosozialen Notfall" der Eltern braucht es kein Skalpell am Kind, sondern psychologische und sozialpädagogische Betreuung für die Eltern, und gegebenenfalls später auch für die betroffenen Kinder und Jugendlichen selbst.

Quellen:

[1] Lawson Wilkins: The Diagnosis and Treatment of Endocrine Disorders in Childhood and Adolescence. Springfield/Illinois, 1950, S. 274.
Zwischengeschlecht.info: "Genitalverstümmelungen in Kinderkliniken – eine Genealogie."

[2] Elizabeth Reis: Bodies in Doubt: An American History of Intersex. Baltimore, 2009, S. 113.

[3] Als "Beweis" präsentierte Money ein angeblich gelungenes Zwilligsexperiment, das in Wahrheit aber tragisch endete – ein Umstand, den Money zeitlebens unterschlug. John Colapinto: Der Junge, der als Mädchen aufwuchs. Düsseldorf, 2000.

[4] Heute noch stehen die einschlägigen AWMF-Leitlinien 006/026, 027/047, 027/022, 015/052 auf der niedrigsten Evidenzstufe S1.

[5] Vgl. Cheryl Chase, Letter, Sciences, July/August 1993, S. 3. ["Unglücklicherweise sind diese Operationen ungeheuer destruktiv für das sexuelle Empfinden und für das Gefühl der körperlichen Unversehrtheit"]

[6] Kenneth Kipnis, Milton Diamond: "Pediatric Ethics and the Surgical Assignment of Sex", The Journal of Clinical Ethics, Vol. 9 No. 4, 1998, S. 398-410.

[7] Eine beliebte Ausflucht besteht darin, gebetsmühlenartig das Fehlen von Langzeitstudien zu beklagen und gleichzeitig unkontrolliert weiter zu operieren, vgl. Howard Devore: "Endless Calls for 'More Research' as Harmful Interventions Continue", Hermaphrodites With Attitude, Fall/Winter 1996 [PDF], S. 3. Von Behandlern wird u.a. behauptet, Überlebende wären nur aufgrund von Einbildungen unglücklich (Susanne Krege, Vortrag UK Aachen 30.05.2011), erwachsene Zwangsoperierte hätten kein Recht für heutige Betroffene zu sprechen (Olaf Hiort, taz 06.11.2007), oder kritische Betroffene und Menschenrechtskommissionen werden als potentielle Gewalttäter dargestellt (Laurence Baskin, Referent am diesjährigen "3rd EuroDSD Symposium" in Lübeck, Stanford Medicine, Vol. 28 No. 1, 2011 [PDF], S. 26).

[8] Christiane Völling, die bisher einzige Betroffene, die überhaupt einen Behandler wenigstens noch zivilrechtlich belangen konnte, wohlbemerkt in letzter Minute, war beim fraglichen Eingriff schon 18 Jahre alt, alle früheren Eingriffe waren auch bei ihr schon verjährt. Alle anderen Versuche von Betroffenen, Behandler juristisch zu belangen, scheiterten bisher stets an der Verjährung, vgl. auch Zwischengeschlecht.info: "Genitalverstümmelung: 'Unrecht der Medizinversuche anerkennen' (Oliver Tolmein 2009)".

[9] Eckhard Korsch: "Überlegungen zur praktischen Umsetzung des DSD-Consensus-Statements", Vortrag APE 2006, Folie 16
 

>>> "Um den heißen Brei geredet" - Video mit Daniela "Nella" Truffer
>>> Statement Forum 2: "Lebensqualität Betroffener und Perspektiven"

>>> Genitalverstümmelungen in Kinderkliniken – eine Genealogie der Täter 
>>>
150 Jahre Menschenversuche ohne Ethik und Gewissen
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>>> Prof. Hans Naujoks – "seit 1934 rassistische Operationen an Intersexuellen" (V) 
>>> Deutscher Ethikrat: Privilegien für Genitalverstümmler, Zensur für Opfer   

>>> Übersichtsseite zur laufenden Ethikrat-Anhörung 2011

    
Unzensierte Version: Draufklicken (PDF, 3.3 MB)
>>> Flugblatt zur Anhörung (PDF, 3.3 MB)
         WARNUNG: 2. Seite enthält Operationsfotos!

>>> Aufforderung um Unterstützung an den Deutschen Ethikrat Dezember 2008
>>> Erneute Anfrage um Unterstützung an den Deutschen Ethikrat Mai 2009 
>>> Forum Bioethik des Deutschen Ethikrates zu "Intersexualität" 23.6.2010  
>>> Anliegen von Zwischengeschlecht.org an den Deutschen Ethikrat 

Siehe auch:
- Zwangsoperierte über sich selbst und ihr Leben
- Alice Dreger über EthikerInnen als MittäterInnen
- Offener Brief an das "3rd EuroDSD Symposium", Lübeck 21.5.2011
- 9. Menschenrechtsbericht: Bundesregierung deckt medizinische Verbrechen 
- Zwitter-Genitalverstümmelungen: Ethikrat gefordert
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