Intersex, Recht und Ethik - 2 Veranstaltungen zeigen Handlungsbedarf

Aktion + Offener Brief Kinderspital Zürich, 06.07.2008 (Bild: Ärger)

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Zwischengeschlecht.org «Körperliche Unversehrtheit auch für Zwitter!» (Bild: NZZ Format/SF1)

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Gestern fanden in Zürich 2 öffentliche Intersex-Veranstaltungen statt, morgens an der juristischen Fakultät der Uni sowie abends eine Podiumsdiskussion der Paulus-Akademie. Anlass für beide war die weltweit viel gelobte >>> Stellungnahme "Varianten der Geschlechtsentwicklung" der Nationalen Ethikkommission (NEK-CNE). Zwischengeschlecht.org sorgte an beiden Versanstaltungen dafür, dass nicht vergessen wurde, dass kosmetische Genitaloperationen an Kindern mit "atypischen" körperlichen Geschlechtsmerkmalen heute noch gemacht werden, und dass gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht.

Die 1. Veranstaltung "Öffentlicher Workshop: Intersexualität" im "Kompetenzzentrum Medizin - Ethik - Recht Helvetiae (MERH)" der Uni Zürich war ist auf deren >>> Homepage transparent dokumentiert: Alle Präsentationen konnten können dort heruntergeladen werden. [Dieser Blog stellt die Präsentationen deshalb zu Doumentationszwecken untenstehend zum Download bereit.] Zum drängendsten Problem der andauernden Genitalverstümmelungen war in der Ankündigung immerhin festgehalten, Betroffene müssten "vor medizinischen Fehlentwicklungen und Diskriminierung in der Gesellschaft geschützt" werden. Organisiert wurde das Ganze von Prof. Dr. Brigitte Tag (Mitglied NEK-CNE und der dortigen Arbeitsgruppe "Varianten der Geschlechtsentwicklung"). Als Ergänzung zu den Referate-Downloads nachfolgend einige Highlights auch aus der Diskussion anhand des >>> Veranstaltungs-Protokolls von Nella (PDF):

• Prof. Dr. Ulrich Meyer (Bundesrichter, Präsident der sozialrechtlichen Abteilung) >>> Präsentation (PDF): In der Schweiz werden Intersex-Behandlungen über die Invalidenversicherung (IV) abgerechnet (dieser Blog berichtete / Relevante Ziffern in der "Liste der Geburtsgebrechen"). Dies stellt einen höheren Versicherungsanspruch dar als bei den Krankenversicherungen (unbedingter Anspruch auf direkte Übernahme der Behandlungskosten, keinerlei Selbstbehalt). Die IV übernimmt aber nur Behandlungen bis zum vollendeten 20. Lebensjahr (Ausnahme: Komplikationen durch frühere Behandlungen). Auf Hinweis von Zwischengeschlecht.org hatte die NEK-CNE deshalb angeregt, die Versorgung auch darüberhinaus sicherzustellen, um kontraproduktiven Druck auf Betroffene und Eltern zu verhindern und gleichzeitig sicherzustellen, dass einwilligungsfähige Betroffene, die Operationen wollen, diese auch umstandslos bezahlt kriegen. Laut Meyer sei eine entsprechende Gesetzesänderung nicht ohne weiteres möglich (obwohl, worauf aus dem Publikum Dr. Monika Gsell hinwies, die IV dadurch insgesamt Kosten sparen könnte!), weshalb Meyer riet, gleichzeitig flankierende Massnahmen beim Leistungskatalog der Krankenkassen anzustreben. Weiter demontierte Meyer im Vorbeigehen den beliebten Mythos, die sog. "interdisziplinären Behandlungsteams" (inkl. psychosozialer Unterstützung auch für die Eltern) seien heute schon üblich: Aktuell sei nämlich kontinuierliche Beratung und Unterstützung der Eltern via Invalidenversicherung NICHT gedeckt, es bestehe hier versicherungstechnisch eine Leistungslücke, die evtl. in der IV durch die Rechtsfigur der Austauschbefugnis angegangen werden könne, jedoch nicht bei der Krankenversicherung, hier bestehe Handlungsbedarf.

Prof. Dr Michelle Cottier (Uni Basel, Rechtssoziologie / Zivilgesetz)>>> Präsentation (PDF): Stützte sich auf ihre Stellungnahme z.Hd. NEK-CNE (zusammen mit Prof. Dr. Andrea Büchler, Uni Zürich). Eltern hätten kein Recht, für ihre Kinder in medizinisch nicht notwendige Behandlungen einzuwilligen, dies sei vielmehr das höchstpersönliche Recht der Betroffenen selbst, und aus privatrechtlicher Sicht eine Persönlichkeitsverletzung. Das Recht des Kindes auf Sebstbestimmung über den eigenen Körper überwiegt immer das Interesse der Eltern an einem äusserlich „unauffälligen“ Kind. Hier bestehe gesetzgeberischer Handlungsbedarf zum Schutze des Wohls der betroffener Kinder, aber auch zur Entlastung von Ärzten und Eltern. Zwar gebe es heute schon die Möglichkeit der Intervention der Kindesschutzbehörde, aber nur auf Anzeige hin und höchstens in Einzelfällen. Auf meine Fragen hin räumte Cottier in der Diskussion weiter ein, in der Schweiz sei die juristische Diskussion betr. Anwendung des Sterilisationsgesetzes auf Intersex-GenitalOPs noch ganz am Anfang, ebenso, ab wann ein Kind eine informierte Entscheidung treffen könne über einen Eingriff, der das Risko der Verminderung oder des Verlusts der sexuellen Empfindungsfähigkeit mit sich bringt.

Prof. Dr. med. Anna Lauber-Biason (Endokrinologin, Freiburg)>>> Präsentation (PDF): Gab eine Überblick aus medizinischer Sicht, inkl. den übliche Diagrammen und Diagnosen. Peer Support war leider in ihrem "multidisziplinären Team" noch kein Bestandteil. Immerhin verwies Lauber-Biason darauf, dass (mit wenigen Ausnahmen, z.B. Cortisol-Substitution bei "AGS-CAH" mit Salzverlust) kein medizinischer Notfall vorliegt, und dass es immer noch "keine evidenzbasierten allgemeine Leitlinien" gibt. Wohl wegen unserer Anwesenheit verwies sie auf die Internetpräsenz von Zwischengeschlecht.org, diese sei zwar "parteiisch, aber informiert sehr gut". In der Diskussion betonte sie noch einmal, es gebe keine physischen oder medizinischen Gründe, Genitaloperationen nicht solange zu verschieben, bis die Betroffenen selbst entscheiden können.

Dr. Judith Pók Lundquist (Gynäkologin Unispital Zürich, Mitglied NEK-CNE, Vorsitzende der Arbeitsgruppe "Varianten der Geschlechtsentwicklung")>>> Präsentation (PDF): Hob eingangs hervor, dass von Seiten der Mediziner-Akademie SAMW der Handlungsbedarf verkannt wurde (dieser Blog berichtete, vgl. auch Eingabe an NEK-CNE) und räumte in einem bewegenden Statement ein, auch sie selbst habe erst während der Anhörungen der NEK-CNE zum ersten Mal begriffen, was für grosses Leid den Betroffenen angetan wurde, weil einfach so über sie verfügt wurde, und dass es nicht darum geht, ob sie das "richtige Geschlecht" haben oder nicht, sondern dass über ihre Körper verfügt wurde, dass sie nicht selber entscheiden durften, mit Folgen für das ganze Leben (vgl. Statement von Daniela "Nella" Truffer). Pók plädierte, die SAMW solle spezielle und verbindliche Leitlinien erstellen.

Erfreulich war weiter, dass während der Diskussionen mehrfach auch aus dem Publikum (u.a. Dr. Kathrin Zehnder) darauf hingewiesen wurde, dass das Unrecht der Zwangsbehandlungen beendet werden muss. Als quasi inoffizielles Schlusswort wies ich nochmals darauf hin, dass auch die Aufarbeitung des begangenen Unrechts nach wie vor ganz am Anfang steht, und verwies dazu auf unseren (nach wie vor unbeantworteten) >>> Offenen Brief an Unispital und Universität Zürich, den wir zusammen mit der >>> Dokumentation "Intersex Genital Mutilations" [WARNUNG!!!] eingangs verteilt hatten.

Die 2. Veranstaltung "Weder Bub noch Mädchen - Varianten der Geschlechtsentwicklung" war organisiert von der Paulus Akademie Zürich und ebenfalls gut besucht. Der Arzt und Medizinethiker Dr. Jürg Streuli ("Schweizer Netzwerk für Intersex und Varianten der Geschlechtsentwicklung SNIV" – eines der raren nicht-pathologisierenden Projekte, das zudem Peer Support und Betroffene ernst nimmt) gab ein Einführungsreferat zum Thema inkl. interessanten Einblicken in seine aktuelles Forschungsprojekt "Interdisziplinäre Betreuung von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung (DSD / Intersexualität)", u.a. dazu, wie sich pathologisierende vs. nicht pathologisierende Beratung von Eltern auswirkt auf deren Bereitschaft, kosmetische GenitalOPs an ihren Kindern durchführen zu lassen (rot) oder nicht (blau):

(Abb. aus der lesenswerten Psychologie-Bachelorarbeit von Yvonne Cavicchia-Balmer "Information, Aufklärung und Entscheidungsfindung von Eltern bei der Geburt eines Kindes mit uneindeutigem Geschlecht" (November 2010),
einem Bestandteil des Forschungsprojekts; die zugrunde liegende Fokusgruppe kam zustande im Anschluss an
eine viel beachtete Aktion von Zwischengeschlecht.org vor dem Kinderspital Zürich.)

Weiter auf dem Podium: Dr. Susanne Brauer (Paulusakademie, vormals NEK-CNE) als Gesprächsleiterin, Dr. Judith Pók Lundquist (Gynäkologin Unispital Zürich, Mitglied NEK-CNE, Vorsitzende der Arbeitsgruppe "Varianten der Geschlechtsentwicklung", siehe auch oben), Karin Plattner (Elternselbsthilfe, Mutter eines betroffenen Kindes) und Dr. Kathrin Zehnder (Ethnologin Uni Zürich, Dissertation "Zwitter beim Namen nennen", Co-Herausgeberin und -Autorin "Intersex – Geschlechtsanpassung zum Wohl des Kindes?").

Betroffene waren auf dem Podium nicht vorgesehen, und auch die Medizyner-Märchen-Formulierung auf dem Flyer "Bis vor kurzem wies man ihnen durch Operation und Hormongaben ein Geschlecht zu. Diese Praxis hat sich geändert" bot ebenfalls Anlass zu Besorgnis. Letztlich kam es trotzdem gut: Immerhin hatte es mehrere Betroffene und Verbündete im Publikum, und wie ihr euch vielleicht vorstellen könnt, liessen Nella und your's truly keine Zweifel daran aufkommen, dass die menschenrechtswidrigen Zwangsoperationen leider heute noch andauern, und dass es deshalb nebst echtem "multidisziplinärem" Unterstützungsangebot für Eltern und Betroffene weiter gesetzgeberische Leitplanken, verbindliche Leitlinien und Aufarbeitung braucht – was auch vom Podium herab durchaus bestätigt und bekräftigt wurde.

>>> Zwangsoperierte über sich selbst und ihr Leben
>>> Intersex-"Genitalkorrekturen": Typische Diagnosen und Eingriffe

>>> Das Medizyner-Märchen von den "früheren Behandlungsmaßstäben" 
>>> Intersex-Genitalverstümmelungen – eine Genealogie der TäterInnen