Schon
praktisch, wenn die eigene Lebensgeschichte als Artikel in einer Zeitschrift
veröffentlicht wurde (siehe unten). Man kann dann darauf verweisen und muss
nicht lange überlegen, was man jetzt erzählen will und wo man beginnen
soll.
Ansonsten:
Die ersten Beiträge in meinem Blog sind selbstredend. Es geht nicht um mich,
sondern um die Sache. Aber ich werde auch manchmal etwas von mir erzählen.
>>>
Aktion & Offener Brief Kinderspital Zürich, 6.7.08 (Bild:
Ärger)
Artikel in der Annabelle 9/06 vom 10. Mai 2006:
(Ja, die Zwitter Medien
Offensive™ gabs schon damals!)
Nicht Frau und nicht Mann
>>> Artikel als PDF
Sie ist ein Hermaphrodit, ein Zwitter mit Merkmalen beider Geschlechter.
Über drei Jahrzehnte war ihr Dasein geprägt von Schweigen, Scham und den
Schmerzen von Operationen, in denen die Ärzte sie äusserlich zur Frau formten.
Dann endlich zerrte sie das Tabu ihres Lebens ans Tageslicht.
Text: Claudia Senn
Was sagt man als Arzt zu den Eltern, wenn ein Kind wie Nella zur Welt kommt? An
dem alles dran ist, aber eben auch ein Zipfelchen zu viel: fünf Zehen an jedem
Fuss, fünf Finger an jeder Hand, eine Klitoris, die grösser ist als normal,
viel grösser. Sagt man: Gratuliere, Sie haben ein halbes Mädchen? Einen halben
Jungen? Ein Bubenmeiteli?
Gleich nach der Geburt stellten die Ärzte fest, dass Nella keine Gebärmutter
hatte und keine Eierstöcke, dafür Hodenanlagen im Inneren des Körpers. Ihre
Vagina war sehr kurz, wie zugewachsen. Und ein Test ergab, dass sie
xy-Chromosomen hatte, genetisch also ein Junge war. «Nennen Sie sie doch
einfach Andrea», riet eine Krankenschwester den verstörten Eltern. «Das können
Sie notfalls leicht in Andreas umwandeln.»
Nellas Eltern dachten wohl, sie hätten eine Art Monstrum geboren. Eine
Missgeburt, so selten wie ein Kalb mit zwei Köpfen. Keiner sagte ihnen, dass so
was häufiger vorkommt, als man denkt. Zwar gibt es keine genauen Zahlen, doch
schätzen die Ärzte, dass etwa eines von 2000 bis eines von 5000 Kindern
intersexuell ist, also Merkmale beider Geschlechter hat.
Meist weisen die Ärzte einem solchen Baby innert weniger Tage ein Geschlecht
zu. Bei Nella fassten sie den Entschluss, dass aus ihr ein Mädchen werden
sollte, auch wenn sie männliche Chromosomen hat. Denn es gibt eine einfache
Regel in der plastischen Chirurgie: «It’s easier to make a hole than to built a
pole» – es ist einfacher, eine Vagina herzustellen als einen Penis.
Vorerst entfernten sie dem Säugling jedoch nur die Hodenanlagen.
Orchiektomie nennen die Ärzte diese Operation. «Ich nenne sie Kastration», sagt
Nella.
Als das kleine Mädchen, das auch noch einen schweren Herzfehler hatte, nach
drei Monaten Klinik endlich nach Hause entlassen wurde, litt es unter
Hospitalismus. So nennt man das, wenn ein Kind nach langem Spitalaufenthalt aus
Mangel an Liebe und Zuwendung vollkommen erloschen und verkümmert ist.
Heute ist Nella 38. Niemand, der es nicht weiss, käme auf die Idee, dass sie
ein Hermaphrodit ist. Sie ist der sportliche Typ Frau, trägt Jeans und
Kapuzenshirts, ist ungeschminkt, mit kurzen braunen Haaren.
Natürlich hat sie in Wirklichkeit einen anderen Namen. Sie zieht ein
Pseudonym vor, weil sie keine Lust hat, nach der Publikation dieses Artikels
Anrufe von sensationsgeilen Medien zu kriegen. Auch in ihrem Umfeld weiss
längst nicht jeder, was mit ihr los ist. Immerhin hat sie es nach fünf harten
Jahren Therapie geschafft, den engsten Freundeskreis einzuweihen. Das ist schon
viel, wenn man sich ein Leben lang für abartig gehalten hat.
Wann beginnt ein intersexuelles Kind zu ahnen, dass es anders ist als die
anderen? «Ich spürte es von Anfang an», sagt Nella. Schon als kleines Kind
weiss sie instinktiv, dass mit ihren Genitalien etwas nicht stimmt. «Immer
schauten die Erwachsenen da hin. Dauernd fummelten sie da unten rum. Ständig
musste ich zum Arzt, der Nadeln und Katheter in mich hineinstach.» Niemals wird
Nella von jemand anderem als den Eltern gehütet, denn ein Fremder könnte ja
beim Wickeln ihre vergrösserte Klitoris entdecken. Andere Kinder kommen kaum zu
Besuch, denn die könnten Doktor spielen wollen. Nella wird von allen
abgeschirmt. Die Familie deckt ihr grösstes Geheimnis mit Stillschweigen zu.
Manchmal betrachtet sich das kleine Mädchen nackt im Spiegel und rätselt: Was
ist es nur, was mit mir nicht stimmt?
Instinktiv spürt Nella auch, dass es nicht ratsam ist, Fragen zu stellen.
Sie denkt, dass mit ihr etwas sehr Schlimmes los sein muss, so schlimm, dass
man es niemals aussprechen darf, weil sonst etwas Furchtbares geschieht. Früh
lernt sie, «einfach nicht vorhanden» zu sein, wenn wieder ein Arzt, der nur die
medizinische Sensation vor sich sieht und nicht das kleine Kind, zwischen ihren
Beinen fuhrwerkt. Das Bild, das sie von sich selbst aus jener Zeit vor Augen
hat, ist «ein mageres kleines Mädchen mit vor Angst weit aufgerissenen Augen,
das niemals weint, niemals protestiert, stumm alles über sich ergehen lässt.
Das bei allen ärztlichen Torturen verzweifelt versucht, sich auf den einen
Gedanken zu konzentrieren: Es ist gleich vorbei.»
Als sie sieben ist, wird ihr kaputtes Herz operiert und bald darauf eine
Genitalkorrektur vorgenommen. Es ist ein riskanter Eingriff. Die Ärzte nehmen
dabei in Kauf, Nellas sexuelle Empfindungsfähigkeit für immer zu
beeinträchtigen oder gar zu zerstören, wenn sie die für die Lust wichtigen
Nervenbahnen verletzen.
Immer haben die Eltern Angst, dass über ihre Tochter getuschelt wird – wie
in Nellas ersten Lebensjahren, als die Familie noch in einem engen katholischen
Dorf lebte. «Die ist nicht normal», flüsterten da einmal Kinder, als die junge
Mutter mit Nella im Kinderwagen an ihnen vorbeiging. Jetzt, wo die Familie in
einer anonymeren Kleinstadt lebt, bleibt sie von solchen Gerüchten verschont.
Nur einmal, als Nellas Mutter Streit mit der einzigen Verwandten hat, die in
das Familiengeheimnis eingeweiht ist, droht die, öffentlich zu machen, «was
Nella für eine ist». Nella steht daneben, stumm wie ein Möbelstück, und denkt:
Aha, ich bin also abartig. Wenn die anderen das rausfinden, spucken sie mich
an.
Sie ist ein wildes Kind zu dieser Zeit, fast ein wenig bubenhaft. Prügelt
sich mit Jungs und erschreckt Mädchen mit langbeinigen Spinnen. Mit zehn ist
sie zum ersten Mal in einen Jungen verliebt. Ganz allein steht sie auf dem
Pausenplatz und denkt: Verliebt sein, nein, das geht bei mir nicht. So wie ich
bin, kann ich niemals mit einem Bub zusammen sein.
Als sie zwölf ist, erklärt ihr der Arzt, dass man ihr als Baby die
Eierstöcke habe entfernen müssen, weil die «bösartig» gewesen seien, und dass
sie deshalb keine Kinder bekommen könne. Dass es in Wirklichkeit Hodenanlagen
waren, wissen zu dieser Zeit nicht einmal die Eltern. Nella muss nun weibliche
Hormone schlucken, ein Leben lang. «Sonst wäre ich irgendwie Kind geblieben,
ein Neutrum.» Wie geplant wachsen ihr nun Brüste und runden sich die Hüften.
Nella empfindet darüber überwältigende Scham. Später verringern die Ärzte
einmal ihre Dosis, da leidet die junge Frau unter Wallungen, als wäre sie
bereits in den Wechseljahren.
Als die Mutter die erste Menstruation der um ein Jahr jüngeren Schwester
feiert, steht sie daneben, stumm. «Jetzt bist du eine richtige Frau», sagt die
Mutter zu ihrer Schwester. Ich nicht, denkt Nella da zum ersten Mal, ich bin
keine richtige Frau.
Sie zieht sich völlig zurück, ist immer allein und liest, in ihrer Ecke des
Zimmers, das sie mit ihrer Schwester teilt. Freundschaften geht sie aus dem
Weg, «aus Angst vor diesen ganz normalen Mädchenfragen wie: Nimmst du Tampons
oder Binden?»
Eines Tages sollen Schreibtische für das Zimmer der Schwestern angeschafft
werden. Platz gibt es jedoch nicht für zwei, sondern nur für einen einzigen.
«Den darf Nella haben», beschliesst der Vater, «Nella wird ja später sowieso
nicht ausziehen.» Nella steht daneben, wie immer stumm, und fühlt sich, als
habe der Vater ihr soeben eine Ohrfeige verpasst. Ich bin also nicht nur keine
richtige Frau, denkt sie, sondern ich habe auch keine Zukunft.
Doch dann bekommt sie endlich einen ersten konkreten Hinweis darauf, was mit
ihr nicht stimmt. Die Mutter trägt ihr auf, den Hausarzt zu fragen, warum man
ihr denn die Eierstöcke entfernt habe. Das sei doch bestimmt gar nicht
notwendig gewesen. «Das waren gar keine Eierstöcke, das waren Hoden!», blafft
der verärgerte Arzt und verlässt das Zimmer. Nella, 15 Jahre alt, bleibt allein
zurück, geschockt, ratlos, aber nicht wirklich überrascht. Vor sich auf dem
Tisch sieht sie ihre Krankenakte liegen. Sie wirft einen verstohlenen Blick
hinein und liest zum ersten Mal, welchen Namen ihre «Krankheit» hat:
Pseudohermaphroditismus masculinus. Daneben steht der Vermerk: «Die Diagnose
ist der Patientin auf keinen Fall mitzuteilen.»
Dann kommt der Arzt zurück und sagt – nichts. Nella geht nach Hause und
erzählt – nichts. In ihrem Kopf beginnt es zu rattern wie verrückt. Heimlich
sucht sie überall nach Informationen, bezieht Dinge auf sich, die nichts mit
ihrem Krankheitsbild zu tun haben, und hat bald «ein Riesengetto» im Kopf, das
alles nur noch schlimmer macht. Nachts liegt sie wach, starr vor –
unbegründeter – Angst, dass ihr demnächst ein Penis wachsen könnte.
Wenn Nella von ihrer Kindheit erzählt, wird spürbar, was für eine Wut sich
in ihr angestaut hat. Auf die Ärzte, die ihr all die Jahre nicht die Wahrheit
sagten, sondern nur ein absurdes Gemisch aus Lügen, Andeutungen und
Halbwahrheiten. Auf die Eltern, die aus Scham und Hilflosigkeit striktes
Stillschweigen breiteten über Nellas Andersartigkeit und damit ihre Tochter in
die Isolation trieben. Auf sich selbst, weil sie in ihrer Not alle Gefühle und
Bedürfnisse von sich abspaltete und stumm war wie ein Möbelstück.
Und doch war da etwas, was ihr ein Gefühl physischen Lebendigseins gab. Mit
17 entdeckt Nella, die nun die Handelsschule besucht, dass sie sich selbst
befriedigen kann. Ein überwältigender Triumph! Ihr habt gemeint, ihr könnt mich
kaputtmachen mit eurem Rumgeschnippel, denkt sie glücklich, aber es geht doch!
Genau wie bei den anderen! Das konntet ihr mir nicht nehmen! Doch ist das, was
ihr allein so viel Freude macht, auch mit einem Partner möglich? In einem Buch
informiert sie sich über Penisgrössen und erfährt: Mit ihrer verkürzten Scheide
«geht das nie und nimmer». Auch die Ärzte sagen, dass sie «so» nie einen Freund
haben könne, und raten zu einer weiteren Operation.
Es ist ein traumatischer Eingriff. Obwohl sie die Operation so schnell wie
möglich aus ihrem Bewusstsein zu löschen versucht, hat sie noch Jahre später
Alpträume, in denen ihr Unterkörper brutal abgetrennt und verkehrt herum wieder
angeschraubt wird. Nach dem Eingriff muss sie Tag und Nacht eine Art Dildo
tragen, damit ihre blutende, mit einem Stück Gesässhaut ausgekleidete Scheide
nicht wieder zuwächst. «Das Ziel dieser Operation ist es, eine Penetration
möglich zu machen», sagt Nella. «Die Resultate sind jedoch oft unbefriedigend.
Viele haben furchtbare Schmerzen. Die Scheide kann sich nach einiger Zeit
wieder zusammenziehen. Man leidet unter Vernarbungen.» In der
Selbsthilfegruppe, in der sie sich viele Jahre später mit Leidensgefährtinnen
austauscht, nennen sie die Operation zynisch «fickfertig machen».
Doch damals, als sie aus dem Spital kommt, denkt sie erst, dass nun endlich
alles gut ist. Endlich hat sie ihre Vagina. Endlich kann sie mit einem Mann
schlafen. Endlich kann ihr keiner mehr vorwerfen, sie sei keine richtige
Frau.
Während eines Sprachaufenthalts in Paris lernt sie ihren Freund kennen, mit
dem sie noch heute zusammenlebt. Nach dem ersten Sex ist sie wahnsinnig
erleichtert. Es funktioniert! Sie funktioniert!
Doch bleibt Sex für sie etwas Mechanisches. Rein, raus, eruptiv, wild im
besten Fall. Sie kann Lust erleben, aber nicht diesen entspannten zweisamen
Rausch, für den man sich ganz fallen lassen muss. «Ich möchte ja gern», sagt
sie. «Ich würde mich so gern öffnen, erlöst werden von einem anderen aus der
Einsamkeit. Doch ich kriege immer gleich solche Angst, wenn jemand zärtlich zu
mir ist.» Zu lange hat sie ihren geschundenen Körper gehasst, als dass ihn
jetzt plötzlich jemand lieben dürfte. «Ich möchte ihn einfach niemandem
zumuten», sagt sie. Nie im Leben würde sie ihren Körper nackt in einer Sauna
zeigen oder ihm sogar eine Massage gönnen.
Ihrem Freund hat sie lange vorgeworfen, er zeige zu wenig Gefühl, sei zu
distanziert. «Doch mit einem Mann, der ständig mit mir ins Bett will oder
kuscheln, hätte ich gar nicht umgehen können. Der hätte ja das, was ich die
ganze Zeit zu verdrängen versuchte, heraufholen wollen.» Am Anfang der
Beziehung klärt sie ihn kurz darüber auf, dass sie intersexuell ist, keine
Kinder kriegen kann und mehrere Operationen hatte. Danach spricht sie nur noch
selten darüber.
Mit 20 zieht Nella von zu Hause aus und folgt ihrem Freund nach Zürich. Kaum
der beklemmenden Familienatmosphäre entronnen, macht sie eine für sie ganz und
gar überraschende Entdeckung: Sie ist intelligent. Auf dem zweiten Bildungsweg
holt sie die Matura nach und schliesst als Beste ihres Jahrgangs ab. Danach
schreibt sie sich an der Uni für Geschichte ein. Sie ist die Erste in ihrer
Familie, die studiert. Ausgerechnet sie, der Zwitter!
An der Uni merkt sie, dass sie der Stoff fasziniert. Das ist genau mein
Ding!, denkt sie. Doch neben ihrer Begeisterung lauert immer auch die Angst,
enttarnt zu werden. Ist eine intellektuelle Frau nicht verdächtig? Eine Frau,
die Karriere machen will wie ein Mann? Die, mit anderen Worten, gar keine
richtige Frau ist?
Nella beobachtet sich sowieso schon täglich im Spiegel. Ihre Augenbrauen,
die über der Nasenwurzel zusammenwachsen wie bei einem Mann. Die Schultern, die
ihr zu breit vorkommen. Den Bizeps, der ihr zu kräftig erscheint. Aus der Angst
heraus, nicht genug Frau zu sein, schmeisst sie schliesslich ihr Studium hin
und nimmt einen Teilzeitjob an. Den Rest der Zeit ist sie Hausfrau, putzt,
bügelt, bereitet aufwändige Abendessen. «Im Grunde genommen habe ich mich als
graue Maus inszeniert, als die Karikatur einer Frau.»
Doch die verdrängten Gefühle bahnen sich ihren Weg an die Oberfläche in Form
von massiven Zwangsgedanken. Wenn ich diesen Putzlappen nicht zehnmal
auswasche, geschieht ein Unglück, denkt Nella. Sie ist erschöpft, fühlt sich
«so wertlos wie ein Stück Scheisse». Wenn sie überhaupt noch aus dem Bett
kommt, trinkt und raucht sie ohne Limit. Gleichzeitig ist sie so aggressiv,
dass sie Angst hat, Amok zu laufen. Einmal steht ihr im Tram jemand einen
Moment lang im Weg, da möchte sie ihm am liebsten die Faust in die Fresse
rammen. «Ich fühlte mich wie eine Zeitbombe, die jeden Moment hochgehen
kann.»
Mit 33 Jahren zieht Nella die Notbremse und beginnt eine Therapie. Fünf
Jahre kämpft sie dreimal die Woche dagegen, stumm zu sein wie ein Möbelstück.
Als sie das grosse Tabu ihres Lebens Stück für Stück ans Licht zerrt, kommt ihr
das erst vor wie ein gigantischer Verrat. Etwa zur selben Zeit tut sie etwas,
was sie schon lang hätte tun können, wenn sie es nur gewagt hätte: Sie gibt bei
Google den Begriff ein, den sie in ihrer Krankenakte gelesen hat:
Pseudohermaphroditismus masculinus. Da tut sich eine ganze Welt auf!
Selbsthilfegruppen, Intersexuellen-Netzwerke, Informationsforen. Es gibt noch
mehr Menschen wie sie! Allein in der Schweiz müssen es Hunderte sein! «Ich war
unglaublich aufgewühlt.»
Niemals wird sie den Moment vergessen, als sie ihr erstes E-Mail an eine
Selbsthilfegruppe abschickt. Die Freude und auch die rasende Angst, durch einen
einzigen Mausklick aus einem Leben voller Schweigen und Verdrängung
hinauszutreten!
Es ändert alles. Es ist, als käme sie nach lebenslangem Umherirren endlich
heim. Beim ersten Treffen sitzt sie mit ihren Leidensgefährten im Restaurant
und könnte platzen vor Glück. Sie ist nicht mehr allein, alle haben Ähnliches
erlebt wie sie. Dieselben Schmerzen, dieselben Lügen über «bösartige»
Eierstöcke, derselbe Vermerk in der Krankenakte: «Die Diagnose ist der
Patientin auf keinen Fall mitzuteilen.»
Manche haben einen trotzigen Humor bewahrt. Wenn sie aufs Klo gehen, sagen
sie: «Ich muss mal für kleine Zwitter.» Das findet Nella wahnsinnig befreiend.
Es ist, als würden sie der Gesellschaft ein Schnippchen schlagen: Ätsch, ihr
habt uns nicht kleingekriegt. Selbst nach den schlimmsten Erfahrungen kann man
noch lachen.
Mit einigen ihrer neuen Freunde chattet sie nun jeden Tag. Das macht der
Isolation ein Ende. Aber es löst nicht die Verwirrung. Sie fühlt sich nicht
mehr als «Mogelpackung». Aber was ist sie dann? «Völlig weibliche
psycho-sexuelle Identität» steht in ihrer Krankenakte. Nella geht in die Luft,
wenn sie das liest. «Diese Anmassung der Ärzte, was wissen die schon!» Sie
weiss zurzeit nicht mal, ob sie Männer oder Frauen liebt. Sie fühlt nicht wie
eine Frau. Sie fühlt auch nicht wie ein Mann. «Ich bin etwas Drittes. Ich bin
ein Hermaphrodit.» Das würde sie am liebsten allen sagen, nur ist die
Gesellschaft leider nicht bereit dafür. Die Gesellschaft sieht Intersexualität
als Krankheit, nicht als Variation der Natur. Was hätten ihre Eltern denn tun
sollen? Sie nicht operieren lassen? «Ich weiss es nicht», sagt Nella. Auch ohne
Operation wäre es in der Pubertät vielleicht schwierig geworden, falls das in
ihren Hoden gebildete Testosteron zu Bartwuchs und Stimmbruch geführt
hätte.
Aus ihrer Gruppe kennt sie ein Kind, dessen Eltern mit seiner
Intersexualität völlig offen umgehen und es keiner medizinischen Behandlung
aussetzen. «Du bist ein ungewöhnliches Mädchen», haben sie zu ihm gesagt, «du
hast manches von einem Jungen. Wenn du grösser bist, kannst du dir aussuchen,
ob du ein Mädchen oder ein Junge sein willst.» Nella findet das sehr mutig.
Doch auch dieses Kind wird es schwer haben, wenn seine Schulkameraden eines
Tages beim Duschen sagen: Hey, was hast du denn da zwischen den Beinen?
«Wahrscheinlich gibt es für das Problem, das die Gesellschaft mit uns hat,
keine schnelle Lösung», sagt Nella.
Sie wünscht sich, die Gesellschaft könnte es ertragen, Menschen wie sie
einfach in Ruhe zu lassen. Dann müsste sie keine Hormone schlucken. Dann hätte
sie keine Narben. Dann fehlte ihr nicht so sehr das Fundament für eine stabile
Identität. «Stattdessen hätte ich dieses Gefühl, ich wäre ganz. Ich wäre ich
selbst. Alles wäre da.»
Es fühlt sich so gut an in ihrer Fantasie.
[Infokasten]
Das diktierte Geschlecht
Ob aus einem Embryo ein Mädchen oder ein Junge wird, steuert ein komplexes
genetisches Programm, das in bestimmten Entwicklungsphasen die Ausschüttung von
Hormonen anregt. Geht dabei etwas schief, kann der Embryo Merkmale beider
Geschlechter entwickeln.
Zu den häufigsten Formender Intersexualität gehört die partielle
Androgenresistenz (PAIS) wie bei Nella. Sie hat xy-Chromosomen, ist also
genetisch männlich. Gleichzeitig sind die Zellen ihres Körpers aber teilweise
resistent gegen männliche Hormone, sodass diese im Mutterleib nicht richtig
«wirken» konnten. Eine Folge davon ist ein nicht eindeutiges Genital.
Die Praxis, intersexuelle Kinder so früh wie möglich einem Geschlecht
zuzuordnen und zu operieren, geht auf eine – heute widerlegte – Theorie des
US-Sexualforschers John Money zurück. Money glaubte, die geschlechtliche
Identität sei das Ergebnis sozialer Prägung. Der Mensch komme sozusagen als
Neutrum zur Welt und lerne erst von seinen Eltern, sich als Mädchen oder Junge
zu fühlen. Damit die Eltern ihm eine eindeutige Geschlechtsidentität vermitteln
könnten, müsse ein nicht eindeutiges Genital so schnell wie möglich operiert
werden – und das Kind dürfe anschliessend auf keinen Fall davon erfahren.
Viele Geschlechtszuweisungen erweisen sich jedoch als falsch, und die
Betroffenen leiden ein Leben lang physisch und psychisch darunter. Obwohl die
Mikrochirurgie grosse Fortschritte gemacht hat, haben Genitalkorrekturen auch
heute noch häufig zur Folge, dass das sexuelle Lustempfinden verloren geht oder
dass sexuelle Erregung als schmerzhaft wahrgenommen wird. Und die körperfremden
Hormone, die viele Intersexuelle nach einer Kastration lebenslänglich einnehmen
müssen, haben schwere Nebenwirkungen zur Folge.
Fortschrittliche Ärzte sprechen sich heute dafür aus, einem intersexuellen
Kind ein vorläufiges Geschlecht zuzuweisen, dieses aber nicht vor der Pubertät
mit Operationen festzulegen, sodass das Kind selbst entscheiden kann, ob es als
Mann oder Frau (oder weiter als Hermaphrodit) leben will.
Mehr Informationen www.infointersex.ch:
Die Website ist noch im Aufbau, enthält aber hervorragende Links mit Adressen
von Selbsthilfegruppen und Forschungsnetzwerken sowie Literaturtipps.