CH > Kosmetische Klitorisamputationen an Intersex-Kindern: Kinderspital Zürich beginnt Aufarbeitung von IGM-Praktiken

>>> Pressemitteilung 01.06.2015: Intersex-Aufarbeitung – Kispi-Ball-Protest ausgesetzt


1. Zwitterdemo vor dem Kinderspital Zürich, 06.07.2008
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Intersex: Ohne Aufarbeitung, Keine Aussöhnung

Am 27.05.2015 erschien ein >>> NZZ-Artikel von Alan Niederer (Redaktion Wissenschaft) über einen vom Kispi in Auftrag gegebenen Bericht "Historische Evaluation der Behandlung von Patienten und Patientinnen mit Besonderheiten der Geschlechtsentwicklung", beruhend auf archivierten Krankenakten von betroffenen Kindern mit Diagnose AGS/CAH.

Dieser >>> Kispi-Bericht (PDF) (welcher der Öffentlichkeit und auch diesem Blog bisher nicht vorlag) bestätigt offiziell, was Zwischengeschlecht.org und dieser Blog seit 2012 anhand verschiedener Fachpublikationen aus dem Kispi wiederholt belegten: Kosmetische Klitorisamputationen an Zwitterkindern waren im Kispi ZH (wie auch sonst in Uni-Kinderkliniken nicht nur in der Schweiz) jahrzehntelang unhinterfragte Praxis.

Soweit, so sensationell – doch es kommt noch besser: Beim besagten Bericht handelt es sich lediglich um einen ersten Schritt für eine grundlegende historische Aufarbeitung von IGM-Praktiken, bei der künftig auch Betroffene und ihre Organisationen miteinbezogen werden sollen. Dem Vernehmen nach seien dazu beim Kispi bereits konkrete Pläne auch zur Weiterfinanzierung in der Pipeline.

Dieser Blog gratuliert dem Kispi und allen vor und hinter den Kulissen Beteiligten ganz herzlich zu diesem konstruktiven Schritt in eine bessere Zukunft!

Mit der angekündigten öffentlichen Aufarbeitung, in welchem Umfang und bis wann Klitorisamputationen und weitere medizinisch nicht notwendige Eingriffe mit "psychosozialer Indikation" (NEK-CNE) an Kindern mit Varianten der Geschlechtsanatomie praktiziert wurden, setzt das Kinderspital Zürich einen wichtigen Meilenstein.

Es wäre wünschenswert, dass nun auch der Kanton Zürich und die Universität Zürich diesbezüglich ihre Mitverantwortung endlich wahrnehmen – und dass diese historische Pioniertat des Kispi ZH künftig weiteren betroffenen Universitätskliniken und verantwortlichen Behörden als Beispiel dient ...

Gleichzeitig wollen wir heute daran erinnern, dass auch diese positive Entwicklung einmal mehr nicht "vom Himmel fiel", sondern vielmehr das Resultat von entschiedener und hartnäckiger Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit von Betroffenen und ihren Unterstützer_innen war.

Deshalb nachfolgend ein kurzer Rückblick auf 7 Jahre Kampf um Aufarbeitung von IGM-Praktiken im Kinderspital Zürich:

>>> Aktion & Offener Brief Kinderspital Zürich, 6.7.08   (Bild: Dominik Huber>>> Video

Am 6. Juli 2008 organisierte Zwischengeschlecht.org zum ersten Mal einen friedlichen Protest vor dem Kispi, um auf das gesellschaftliche Tabu zu Intersex und IGM-Praktiken aufmerksam zu machen. In einem Offenen Brief wurde auf die Unhaltbarkeit und Menschenrechtswidrigkeit aller Intersex-"Genitakorrekturen" hingewiesen. Das Medienecho war erfreulich: Die Tageschau berichtete in der Hauptausgabe (Video), weiter der Landbote, der Tages-Anzeiger, 20 Minuten, Tachles und die NZZ am Sonntag.

Als Reaktion auf den Offenen Brief kam es zu mehreren konstruktiven Gesprächen zwischen Kispi-ÄrztInnen, Zwischengeschlecht.org und der Eltern-Selbsthilfe. Daraus resultierte wiederum eine weltweit beachtete explorative Studie u.a. von Yvonne Cavicchia-Balmer und Jürg Streuli zum Thema Auswirkungen von medikalisierender Elternberatung durch MedizinerInnen mit verblüffenden Resultaten (vgl. nachfolgende Grafik, mehr dazu englisch | deutsch).

Streuli JC, Vayena E, Cavicchia-Balmer Y, and Huber J. Shaping parents: Impact of contrasting professional counseling on parents' decision making for children with disorders of sex development. J Sex Med 2013;10:1953–1960.

Zum Intersex Awareness Day 2009 initiierte Zwischengeschlecht.org eine historische Anfrage im Kantonsrat Zürich zum Thema IGM-Praktiken im Kispi, inkl. Medienecho u.a. im Tages-Anzeiger:

(Diesem ersten politischen Vorstoss zum Thema Intersex und IGM-Praktiken in der Schweiz überhaupt folgten 2010 drei weitere kantonale Anfragen meist aufgrund von gewaltfreien Intersex-Protesten (Bern / Luzern / Basel Stadt), sowie 2011 zwei im Nationalrat. Aufgrund letzterer erfolgte der Auftrag des Bundesrats an die Nationale Ethikkommission (NEK-CNE), welche 2012 ihre weltweit beachtete Stellungnahme ablieferte.)

Friedlicher Protest + Offener Brief 10.05.2012    >>> 10vor10-Video zu den Protesten

Am 10. Mai 2012 doppelte Zwischengeschlecht.org anlässlich einer Aktion zu einer Kinderurologenkonferenz in Zürich mit einem erneuten Offenen Brief an das Kispi, die Universität Zürich und die kantonale Bildungsdirektorin nach, worin erstmals Klitorisamputationen im Kispi nachgewiesen wurden, und explizit eine historische Aufarbeitung eingefordert wurde. Zwar erhielten wir nie eine offizielle Antwort, doch aus informellen Gesprächen wurde deutlich, dass die historischen Tatsachen im Kispi bisher kaum bekannt waren und ÄrztInnen zum Teil betroffen machten. 2013 bekräftigten wir diese Forderung nach Aufarbeitung anlässlich von 2 Veranstaltungen u.a. an der Uni im Zusammenhang mit den NEK-Empfehlungen (die ebenfalls Aufarbeitung fordern).

>>> "Club"-Video    >>> Hochdt. Untertitel .srt    >>> Video-Download (386 MB)

Am 22. Mai 2012 kam es im Zusammenhang mit dem Intersex-CH-Tatort "Skalpell" zu einer denkwürdigen "Club"-TV-Diskussion zu Intersex und IGM-Praktiken. Im Studio waren u.a. Daniela "Nella" Truffer und Markus Bauer (Zwischengeschlecht.org), Karin Plattner (Elternselbsthilfe SI-Global) und auf ÄrztInnenseite Kinderchirurgin Rita Gobet (Kispi ZH) und der Pädiater Christian Kind (damaliger Chef CH-Pädiatergesellschaft, SAMW-Ethikkommission und des Ostschweizer Kinderspitals). Vor allem Nellas "durchschlagende" Diskussionsbeiträge (ab der 13. Sendungsminute) dürften nicht unwesentlich dazu beigetragen haben, dass das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer Aufarbeitung im Kispi weiter zunahm ...

Kosmetische Klitorisamputationen an Kindern im Kispi Zürich und Insel Bern, z.B. Andrea Prader, Max Grob, Marcel Bettex, von Zwischengeschlecht.org

2013 veröffentlichte Zwischengeschlecht.org eine Dokumentation zu "Kosmetische Klitorisamputationen" (PDF) in Kispi Zürich und Insel Bern – mit Belegen aus Fachpublikationen, die jahrzehntelange, systematische Klitorisamputationen an wehrlosen Kindern aufzeigen – und wie beteiligte Institutionen im In- und Ausland sich bisher vor jeglicher Verantwortung drücken.

Anlässlich eines Interviews mit Daniela Truffer für Al Jazeera kam es am 31.10.2013 zu einem weiteren friedlichen Intersex-Protest vor dem Universitäts-Kinderspital Zürich:

"Alle Jahre wieder": Friedlicher Protest vor dem Kispi ZH, 31.10.2013

Dabei wurde ein Flugblatt (PDF) verteilt, das einmal mehr eine historische Aufarbeitung von kosmetischen Klitorisamputationen und weiteren IGM-Praktiken einforderte:

Als Kispi-Direktor Markus Malagoli bei einem Augenschein realisierte, dass es sich um einen Intersex-Protest handelte, kommentierte er trocken: "Alle Jahre wieder." Trotzdem schien auch er nicht ganz unbeindruckt von unserem Flugblatt resp. Anliegen:

Am 4. Februar 2015 kritisierte schliesslich der UN-Kinderrechtsausschuss CRC aufgrund eines Schattenberichts u.a von Zwischengeschlecht.org die Schweiz wegen Intersex-Genitalverstümmelungen, welche der Auschuss unter Verweis u.a. auf die Stellungnahme der Nationalen Ethikkommission (NEK-CNE) explizit als "schädliche Praxis" und "Gewalt an Kindern" klassifizierte.

20min-Report zum UN-Kinderrechtsausschuss - Vergrössern: reinklicken!

Dieser historische Beschluss des UN-Kinderrechtsausschusses verpflichtet die Schweiz, nicht nur endlich gesetzgeberische Massnahmen gegen IGM-Praktiken an die Hand zu nehmen, sondern auch eine ganzheitige Strategie zu ihrer Eliminierung, einschliesslich Datenerfassung, Monitoring, Aufarbeitung, öffentliche Entschuldigung sowie angemessene Entschädigung aller Überlebenden, unter Einbezug der betroffenen Kliniken, medizinischer Standesorganisationen und des Staates, der seine Schutzpflicht gegenüber betroffenen Kindern viel zu lange auf die leichte Schulter nahm, und heute noch nimmt.

Wie weit sich dies alles wie vom Kispi in der heutigen NZZ angekündigt mit einem auf Februar 2016 angesetzten Abschlussbericht bewältigen lässt, scheint eher fraglich. Das Bewusstsein, dass IGM-Praktiken eine Menschenrechtsverletzung und insbesondere eine schädliche Praxis darstellen, und was dies konkret bedeutet, steckt vielerorts noch immer in den Kinderschuhen. Fortsetzung folgt ...

>>> Zwangsoperierte Zwitter über sich selbst und ihr Leben
>>> Intersex-Genitalverstümmelungen: Typische Diagnosen und Eingriffe
>>> IGM – eine Genealogie der TäterInnen

NGO Report an das UN-Kinderrechtskomitee
Belegt 17 gebräuchliche IGM-Formen und NS-Verbrechen in CH, D, A

Intersex Genital Mutilations
Human Rights Violations Of Children With Variations Of Sex Anatomy
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IGM as a Harmful Practice: 2015 UN-CRC Briefing
• IGM: A Survivor's Perspective • Intersex Movement History
• What are IGM Practices? • What are Variations of Sex Anatomy?
• IGM and Human Rights • Conclusion: IGM as a Harmful Practice
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