Letztes Jahr erhielt ich mehrere Anfrage von StudentInnen, die ihre
Abschlussarbeit zum Thema Intersexualität schreiben (meistens begleitet von
einem Referat vor der Klasse) und ein Interview mit einer
zwischengeschlechtlichen Person führen wollten. Die meisten hatten sich von
einem Zeitungsartikel inspirieren lassen (siehe auch hier und hier)
...
Eine davon ist Laura Borner von der Kantonsschule Wiedikon, Schweiz, die
mir ihre Maturaarbeit gesandt hat: eine gelungene Arbeit, die über
Zwangsoperationen, den Kampf um Selbstbestimmung und die Forderungen
Zwischengeschlechtlicher berichtet. Viel Raum auch für ausführliche Interviews
mit Karin Plattner, Mutter eines zwischengeschlechtlichen Kindes und Gründerin
des Vereins "Selbsthilfe Intersexualität", und meiner Wenigkeit.
Ich danke Laura für diese aufklärende Arbeit!
Hier das in der Maturaarbeit veröffentlichte Interview mit mir:
Leben mit Intersexualität
Wann erfuhren Sie, dass Sie intersexuell sind? Wie erklärte man es
Ihnen?
Man hat mir nichts erklärt, man hat mich ständig angelogen oder mit
Halbwahrheiten abgespiesen. Ich habe aber immer gespürt, dass etwas nicht
stimmt, habe mich geschämt, denn ich wusste, dass es mit meinen Genitalien zu
tun hat. Sonst würden die doch nicht ständig da hingucken und hingreifen und so
besorgt und peinlich berührt tun. Ich war abartig, man musste mich verstecken,
man musste meinen Körper korrigieren. Ich war immer innerlich wie gelähmt,
machte mich so unsichtbar wie möglich.
Wie war es für Sie, als Sie es erfuhren? Ein Schock?
Eigentlich nicht. Ich wusste immer, dass ich anders bin. Ich sah auch zwischen
den Beinen anders aus als meine Schwestern und fragte offenbar meine Mutter,
warum das so sei. Ich selber kann mich nicht mehr daran erinnern. Einen
konkreten Hinweis erhielt ich mit ungefähr vierzehn Jahren, dass meine
vermeintlichen Eierstöcke in Wahrheit Hoden waren. Der Hausarzt warf es mir in
einem unkontrollierten Moment an den Kopf, ohne jedoch weiter darüber zu reden
geschweige denn etwas zu erklären. Ich war nicht wirklich geschockt, ich
erinnere mich sogar, dass ich dachte: ach so, jetzt verstehe ich. Aber nur
nichts anmerken lassen, weiter machen wie bisher. Habe mit niemandem darüber
geredet, in Büchern nachgeschaut, ein Riesenchaos im Kopf.
In wie fern änderte sich Ihr Leben?
Gar nicht, es blieb, wie es war: ich war allein damit, ich habe alles mit mir
selber ausgemacht, habe nie Fragen gestellt, nie geschrieen, protestiert, immer
ganz lieb und ruhig und alles geschluckt. Wie das Kaninchen vor der Schlange
versetzte ich mich immer in eine Starre, wenn ich zum Arzt musste. Daheim
redete niemand darüber, ich sowieso nicht, stellte keine Fragen. Angst,
Verzweiflung, dumpfe Leere. Als würde man vor einem grossen schwarzen Loch
stehen und man darf nicht schreien, nicht zeigen, wie verletzlich man ist, denn
die sind alle überfordert, Mediziner und Eltern, tun so, als ob alles gut wäre,
obwohl ein Blinder merken würde, dass das nicht stimmt. Da beginnt man
mitzuspielen, denn wenn man aufhören würde, dann bräche die Welt zusammen,
dieses Konstrukt. Man will nicht die sein, die alles kaputt macht.
Hat sich Ihr Bild von Mann und Frau dadurch verändert?
Ich habe immer gewusst, dass ich keine richtige Frau bin. Aber ich kann nicht
vergleichen, weiss nicht, wie eine richtige Frau fühlt, wie ein richtiger Mann.
Was ist das schon, eine 'richtige' Frau, ein 'richtiger' Mann? Ich habe es auch
nie zugelassen, mich anders zu fühlen, kann erst heute sagen: ich bin weder
noch. Heute kann ich sagen: Es gibt Frauen, es gibt Männer, und es gibt
Zwitter. Ich bin ein Zwitter. Eigentlich ganz einfach. Leider habe ich vierzig
Jahre meines Lebens verbraucht, um zu dieser Aussage zu kommen.
Wer half Ihnen mit der Diagnose umzugehen und sie zu
verarbeiten?
Niemand, ich war immer allein damit. Ausser heute meine Psychotherapeutin
respektive ich selber durch sie. Ich hatte nie eine Freundin, eine vertraute
Person, mit der ich darüber reden konnte. Ich habe mich immer versteckt. So
kann man keine wirklichen Bindungen eingehen, man bleibt immer isoliert. Heute,
nach acht Jahren intensiver Therapie, geht es mir gut.
Wussten Sie schon immer, dass Sie anders sind, als das von der
Gesellschaft entworfene ideale Bild von Mann und Frau?
Ich wusste das schon immer respektive fühlte mich immer anders. Ob das nun ist,
weil ich ein Zwitter bin, körperlich dazwischen, auch im Kopf vielleicht, oder
ob das ist, weil ich immer so anders behandelt wurde, weiss ich nicht. Es wurde
mir ja vor allem vermittelt, dass ich anders bin, weil grundlos operieren sie
den Körper ja nicht, über etwas Positives macht man kein Geheimnis. Je länger
ich meine Ruhe habe und zu mir finde, desto mehr verändert sich mein Selbstbild
und das sieht irgendwie schon dazwischen aus. Jetzt, wo ich niemandem mehr
beweisen muss, dass ich eine richtige Frau bin, kann ich eher mich selber
sein.
Wie nahm Ihre Familie, Ihre Freunde die Diagnose auf?
Es wurde nicht darüber geredet. Man machte ein Geheimnis draus, man versteckte
'es', obwohl man gar nicht wusste, was 'es' ist. Das ist ja das Absurde: man
darf nicht darüber reden, aber man weiss gar nicht, worüber man nicht reden
darf. Da entwickelt man einen regelrechten Verfolgungswahn, als müsste man vor
etwas flüchten, aber man weiss nicht, was es ist und wann und aus welcher
Richtung es kommen wird. Meine Eltern wurden auch angelogen, von Anfang
an.
Machten Sie Ihren Eltern Vorwürfe, dass sie sich für einen
Geschlechtsanpassung bei Ihnen entschieden hatten?
Als Kind wohl schon, denn du bist dort, im Spital, die Mediziner greifen dir
immer wieder zwischen die Beine, du hast Schmerzen, Angst, furchtbare
Operationen, und deine Eltern stehen so quasi daneben und schauen zu, helfen
dir nicht. Die klassische Missbrauchssituation.
Hat sich dadurch Ihr Verhältnis zu Ihren Eltern, Familie und Freunden
geändert?
Man verliert das Urvertrauen, ganze Familien werden durch diese
menschenrechtswidrige Praxis kaputt gemacht. Da können keine guten Gefühle mehr
sein zwischen Eltern und Kind. Ich habe mich immer abgeschottet, habe mich
immer allein gefühlt in meinem Elternhaus. Seit einigen Jahren habe ich wieder
liebevolle Gefühle für meine Eltern, weil ich ihnen gesagt habe, wie sehr ich
gelitten habe. Ich habe mich ihnen gezeigt, das war der springende Punkt.
Vorher sagte ich nie was, das macht Distanz. Ich habe dicht gemacht, niemanden
an mich heran gelassen. Heute mache ich meinen Eltern keinen Vorwurf. Sie
wurden auch angelogen, auch sie sind Opfer.
In einem Bericht über Sie, las ich, dass Sie heute in einer glücklichen
Beziehung leben. Wie reagierte Ihr Partner darauf, als sie Ihn über Ihr
„Schicksal“ aufklärten?
Er war über die menschenrechtswidrigen Zwangsoperationen schockiert, konnte es
kaum glauben, was die mit uns machen. Er hat keine Probleme damit, sieht mich
wohl eher als Frau, aber ich bin auch der Zwitter: ich muss meine Seinsweise,
meine Lebensrealität nicht verstecken, das ist wohl der springende Punkt. Er
setzt sich mit mir zusammen für eine Enttabuisierung von Intersexualität
ein.
Von wem erfuhren Sie, dass es auch andere Intersexuelle gibt, die sich
in verschieden Selbsthilfegruppen treffen (Ärzte)?
Aus dem Internet, ganz einfach. Eines Tages gab ich meine Diagnose ein –
"pseudohermaphroditismus masculinus" – und plötzlich waren da zig
Informationen. Das war unglaublich. Alles im Alleingang, seit ich denken kann.
Deshalb habe ich noch heute Mühe, wenn jemand mich 'begleiten' will. Von den
Ärzten erfährt man das nie und nimmer, die tun eher so, als wäre man allein auf
der Welt.
Hat es Ihnen viel geholfen, als Sie erfuhren, dass es auch andere
Menschen mit Intersexualität gibt?
Das ist das Beste für alle Zwitter, alle sagen das. Dass man sich mit
Gleichgesinnten austauschen kann ist das beste Heilmittel, die grösste
Unterstützung! Und was machen die Mediziner? Sie sagen ihren 'Patienten' nichts
davon, suchen den Kontakt nicht. Logisch, weil in den Selbsthilfegruppen
erfahren die Opfer von Zwangsoperationen, dass sie nicht die einzigen sind, die
sich schlecht fühlen, denen Unrecht widerfahren ist. Die isolieren uns bewusst,
aus Angst vor einem 'Aufstand'. Das ist wie bei den Krankenakten: bei den
meisten Intersexuellen sind sie 'verschwunden'.
Wie wichtig ist es für andere Intersexuelle, dass Sie als Betroffene
aus der Anonymität traten und der Intersexualität ein Gesicht
gaben?
Ich denke, dass es sicher wichtig ist. Andere Intersexuelle sollen dadurch
ermutigt werden, aus ihrem Versteck zu kommen. Aber es macht auch Angst und ist
wohl auch für viele ein Schock. Plötzlich ist da eine im Heftli, die sagt, sie
sei ein Zwitter, spricht das aus, was man nie aussprechen durfte. Das heisst
nicht, dass alle an die Öffentlichkeit müssen, aber schon aus der Isolation
raus und Gleichgesinnte treffen, macht Angst. Das Gefängnis, in dem man steckt,
isoliert, bietet aber auch Schutz, wird zur Gewohnheit. Vor dem Neuen hat man
Angst. Zugleich macht es vielen Intersexuellen wohl auch Angst, sich quasi
gegen die Mediziner und die Eltern zu stellen, indem sie schlicht und einfach
aufhören, sich zu verstecken, das Schweigegelübde zu brechen, anzuklagen. Es
ist ein bisschen wie beim Stockholmsyndrom. Sich gegen die
wenden, mit denen man bisher das Spiel 'Alles ist in Ordnung' mitgespielt hat,
weil man der Wahrheit nicht ins Gesicht schauen wollte oder konnte. Aufstehen
und sagen, dass man gelitten hat, die Fassade runterreissen, das reicht schon,
das heisst nämlich, den Medizinern und den Eltern sagen: ihr habt versagt! Nur
schon der Gang in die Selbsthilfegruppe bedeutet das ja quasi. Es ist wie beim
sexuellen Missbrauch: wir reden nicht darüber, also ist es auch nicht passiert.
Und wenn es doch tut, ist man ein Verräter. Die meisten haben natürlich auch
Angst, sich selber einzugestehen, dass sie gelitten haben, Trauer, Schmerz,
Verzweiflung nicht länger zu verdrängen.
Wer hat Ihnen zu diesem Schritt geholfen?
Ich selber, zusammen mit meiner Therapeutin. Jahrelange Psychotherapie, zu mir
selber kommen, mich selber gern haben, aufhören, meine wahren Gefühle zu
verdrängen. Das ist ein Riesenchrampf. So, wie ich drauf war, hätte ich das
nicht allein gekonnt. Ich war ja so gefangen in dieser Fantasiewelt, die ich
mir als Kind schon aufgebaut hatte, in der mir nichts etwas anhaben konnte: ich
fühle keine Schmerzen, ich brauche keine Liebe, ich stehe über allem. Ich bin
gar nicht da! Da findet man allein nicht mehr raus, da es etwas ist, das man
selber konstruiert hat, als Schutz. Das gibt man nicht gerne her, auch wenn es
einen kaputt macht.
Wenn Sie einen Wunsch hätten, was würden Sie sich
wünschen?
Ich möchte meinen ursprünglichen Körper zurück haben, genauso, wie er bei der
Geburt war. Keine Narben, keine Hormone schlucken, ich wäre ganz, mich selbst.
Mein Körper, wie er bei der Geburt war, wie er heute wäre. Ich frage mich, wie
ich gewesen wäre, aber ich werde es nie erfahren, das haben sie mir für immer
genommen. Ohne mich zu fragen.
Welche Bezeichnung ist für Sie die angenehmste: Intersexuelle/r,
Zwitter, Hermaphrodit?
Zwitter oder Hermaphrodit
Auf der Website von intersex fand ich verschiedene Forderungen: keine
Zwangsoperationen, das Individuum respektieren, die Eltern informieren, die
Gesellschaft sensibilisieren. Was denken Sie über diese Forderungen? Welche ist
für Sie die wichtigste? Wird es möglich sein, sie in der heutigen
Gesellschaftssituation umzusetzen?
Selbstbestimmung für Zwitter, keine nicht lebensnotwendigen Operationen ohne
Einwilligung der intersexuellen Person.
Wenn man diese Forderung befolgen würde, dann würde sich alles andere quasi von
selber ergeben. Es wäre sicher nicht einfach, in unserer Gesellschaft ein
intersexuelles Kind aufzuziehen, aber es würde immer einfacher werden, wenn man
damit beginnen würde. Man müsste, um dies zu ermöglichen, die Gesellschaft
weiter aufklären, Intersexuelle und ihre Eltern unterstützen, Intersexualität
in den Lehrplänen und bei den Ausbildungen aller sozialen Berufe integrieren,
gezielt Fachkräfte und Kompetenzzentren für intersexuelle Menschen ausbilden,
einen dritten Geschlechtseintrag ermöglichen, und so weiter und so fort. Es
wird nicht einfach sein, aber wir sind schon auf dem Wege, weil Zwitter immer
mehr beim Namen genannt werden. Wir existieren und man kann uns nicht mehr auf
die Seite schieben.
Soll man Intersexualität als drittes Geschlecht
anerkennen?
Zwitter werden nach wie vor politisch, sozial und juristisch unsichtbar
gemacht. Die Möglichkeit eines provisorischen Geschlechtseintrages, der vom
Betroffenen später geändert werden kann, zudem eine dritte Option beim
Geschlechtseintrag, das würde uns sichtbar machen und die Lage entspannen. Das
ist ja eine der Lieblingsausreden der Mediziner: man müsse ja dem Kind einen
Namen geben. Als ob man ein Kind deswegen operieren müsste, Genitalkontrolle
auf dem Standesamt?!
Wie sieht die momentane Rechtslage in der Schweiz und im Ausland
aus?
Die Rechtslage ist klar. Prof. Andrea Büchler, Professorin für Privatrecht an
der Universität Zürich, sagt beispielsweise, dass es für einen medizinischen
Eingriff die Zustimmung der betroffenen Person braucht. Bei einem Kind
entscheiden in der Regel die Eltern. Aber: Geschlechtszuweisende, sprich:
kosmetische, nicht lebenserhaltende Operationen, tangieren die
höchstpersönlichen Rechte und dürfen nicht ohne Zustimmung des betroffenen
Kindes vorgenommen werden. Bei diesen Operationen habe auch die Eltern nicht
das Recht, für ihr Kind zu entscheiden.
Es handelt sich juristisch in der Schweiz wie auch in Deutschland ganz klar um
schwere Körperverletzung. Die intersexuelle Christiane Völling hat in
Deutschland ihren ehemaligen Arzt verklagt, der ihr vor bald dreissig Jahren
ohne ihre Einwilligung die gesunden Fortpflanzungsorgane wegoperiert hat. Sie
hat gewonnen, und zwar in erster wie auch in zweiter Instanz. Ich kenne weitere
Intersexuelle, die einen Prozess vorbereiten. Wenn das so weiter geht, dann
werden Mediziner aufhören mit diesen Operationen, aber nicht, weil sie
einsehen, dass es Unrecht ist, sondern weil sie Angst vor einer Klage haben,
Angst, Geld und Ansehen zu verlieren.
Was denken Sie über die Geschlechtsbestimmung bei Säuglingen durch
einen operativen Eingriff?
Es handelt sich hier um massive Menschenrechtsverletzungen. Es sind in den
allermeisten Fällen rein kosmetische, keine lebensnotwendigen Operationen, auch
wenn die Mediziner immer wieder mit dem Krebsrisiko beispielsweise bei Hoden im
Bauchraum kommen. Mehrere Studien beweisen, dass das Krebsrisiko weitaus
geringer ist. Kastrationen machen das hormonelle Gleichgewicht im Körper
kaputt, machen aus gesunden Menschen lebenslang kranke und von künstlichen
Hormonen abhängige Menschen, diese künstlichen Hormone machen den Körper
kaputt. Es handelt sich um menschenverachtende Eingriffe im Namen einer
Geschlechternorm, ein zwittriger Körper darf nicht sein, der muss
zurechtgestutzt werden, egal, ob der intersexuelle Mensch psychisch und
physisch ein Leben lang unter den Folgen leidet. Jeder Mensch hat aber das
Recht auf körperliche Unversehrtheit, Selbstbestimmung und Würde.
Was halten Sie von den Argumenten von Ärzten, die behaupten, dass man
so dem Kind einen langen Leidensweg erspare?
Das ist in erster Linie einfach feige von den Medizinern. Und auch von den
Eltern. Wobei die Eltern eher zu entschuldigen sind, denn die haben ja meistens
keine Ahnung. Aber heute kann man sich informieren. Die einen sind mutiger, die
anderen weniger. Das Kind aber hat keine Wahl. Es läge in der Verantwortung der
Mediziner, die Eltern aufzuklären – und sicher nicht, ihnen irreversible
Operationen zu verkaufen. Es sei zum Wohle des Kindes, man wolle ihm Leid
ersparen. Um Leid zu vermeiden, wird aber noch viel grösseres Leid geschaffen.
Das geht nicht auf! Der Mensch redet sich gerne das ein, was ihm am Bequemsten
ist und am wenigsten weh tut. Das ist wie Sondermüll entsorgen im Wald oder
Batteriehühnerfleisch essen. Man weiss genau, dass es Unrecht ist, aber man tut
es trotzdem. Und legt sich was zurecht, damit man gut schlafen kann. Mediziner
und Eltern operieren ein intersexuelles Kind in erster Linie für sich selbst,
sonst würden sie das Kind nämlich zuerst fragen. Doch das schlechte Gewissen
bleibt, deshalb können Eltern ihr intersexuelles Kind sowieso nie annehmen,
vielleicht erst recht nicht, wenn es verstümmelt ist, denn es erinnert die
Eltern immer daran, was sie ihm angetan haben.
Zwangsoperationen sind keine Lösung. Es ist sicher nicht einfach, ein
intersexuelles Kind aufzuziehen. Aber es ist ein Verbrechen, über den Körper
und die Seinsweise eines Kindes zu entscheiden. Denn es geht hier nicht um
lebenserhaltende Operationen, sondern um rein kosmetische Eingriffe. Zum Wohle
des Kindes? Genitaloperationen führen dazu, dass die sexuelle
Empfindungsfähigkeit vermindert oder gänzlich zerstört wird. Es bleiben Narben
zurück, niemand kann sagen, wie viel ein intersexueller Mensch dann noch spürt.
Auch psychische Narben: die meisten Intersexuellen, die ich kenne, haben keinen
Partner, keine Sexualität, ein gestörtes Verhältnis zu ihrem Körper.
Kastrationen und anschliessende Hormonersatztherapie mit körperfremden Hormonen
– das sagt einem kein Arzt – führen zu massiven gesundheitlichen Problemen:
Osteoporose, Stoffwechselstörungen, Diabetes, Adipositas, Depressionen,
Einschränkung der kognitiven Fähigkeiten, Libidoverlust, körperliche und
seelische Leistungsminderung, Konzentrationsstörungen und so weiter und so
fort. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass niemand jemals sagen kann, ob
sich der Zwitter dann in der ihm zugewiesenen Rolle wirklich wohl fühlt. Ein
Drittel aller Zwitter bringt sich um.
Was für eine Rolle spielt hierbei die Gesellschaft?
Die Mediziner agieren nicht isoliert von der Gesellschaft, aber sie haben die
Definitionsmacht, sie sind spezialisiert und können deshalb Leute mit ihrem
Wissen unter Druck setzen. Man ist ihnen ausgeliefert. Wenn die sagen, dass das
so gut ist, dann glauben das die meisten. Auch weil sie es glauben wollen. Es
geschieht im Verborgenen, Mediziner können tun und lassen, was sie wollen. Es
gibt keine Kontrollen. Es gibt für alles Mögliche Nachfolgeuntersuchungen, bei
Intersexualität nicht. Mit Zwanzig entliess mich mein Arzt, es hat ihn nicht
interessiert, wie es mir später geht, er wollte mich nicht – wie zum Beispiel
mein Kardiologe – in fünf Jahren unbedingt wieder sehen.
So schlimm und intolerant, wie die Mediziner einem weismachen wollen, ist die
Gesellschaft nicht. Ich habe noch nie eine negative Reaktion erlebt. Natürlich,
wenn man als Kind, in der Pubertät plötzlich 'komisch' aussieht, ein
vermeintliches Mädchen plötzlich männlicher wird, das wird vielleicht
ausgelacht, schräg angeschaut. Aber das ist nichts im Vergleich zu demütigenden
Untersuchungen, für immer zerstörte Hormonfabriken und Genitalien, Schmerzen
beim Sex oder gar keine Gefühl mehr, angelogen werden, negiert zu werden. Man
kann mit den Leuten reden, ihnen erklären, was los ist. Ich kenne einige
Eltern, die ihre intersexuellen Kinder nicht operieren liessen und so
leben.
Mir fiel auf, dass es in letzter Zeit vermehrt Interviews und Berichte
über Intersexualität gab. Möchten die Intersexuellen damit endlich erreichen,
dass Die Öffentlichkeit die Augen öffnet und nicht länger
wegsieht?
Natürlich. Es geht darum, ein Tabu zu brechen, aufzuklären, uns Zwittern ein
Gesicht zu geben in dieser Gesellschaft. Die meisten Leute wissen überhaupt
nichts über Intersexualität. Man kennt Beschneidungen in Afrika, regt sich
darüber auf, zu Recht, aber dass etwas ähnliches hier in unserem
'zivilisierten' Europa und anderswo geschieht, das weiss niemand. Zwitter leben
versteckt, machen sich klein, schämen sich, denn ihnen wurde von Anfang an
vermittelt: du bist abartig, nicht erwünscht, nicht richtig, deshalb müssen wir
dich operieren und vor allem darfst du mit niemandem darüber reden. Das prägt
fürs Leben. Jetzt reden Zwitter in der Öffentlichkeit, brechen das
Schweigegelübde, diese elende Last, dieses menschenunwürdige Nichtsein, das
einem aufgezwungen wurde, diese Lüge, die das ganze Leben vergiftet! Aber die
meisten schweigen weiterhin. Die Öffentlichkeit soll wissen, soll hinschauen,
denn dann können die Verantwortlichen nicht mehr weiter tun und lassen, was
ihnen passt. Die Politik soll hinschauen, das Gesetz soll hinschauen. Der
Umgang mit Intersexuellen, die Maschinerie, die in Gang gesetzt wird, wenn ein
zwischengeschlechtliches Kind geboren wird, muss abgestellt und in ihre
Einzelteile zerlegt werden. Zwangsoperationen an Zwittern müssen verboten
werden! Das sind Menschenrechtsverletzungen. Jeder Zwitter soll selber über
sein Leben entscheiden dürfen.