Allem Anschein nach eine weitere
Veröffentlichung primär aus der Gender Studies
Perspektive, diesmal aus dem Verlag der Johns Hopkins University (der
Heim-Uni von John Money & Co. sowie Ort der ersten Professur von Judith
Butler). Elizabeth Reis war bisher vor allem bekannt dür ihren Vorschlag, das
"Disorder" in DSD durch "Divergence" zu ersetzen (englisches
PDF).
Die bisher zugänglichen Infos zum Buch lassen die Befürchtung aufkommen, die
Geschichte der Kritik der Betroffenen an den Zwangsoperationen bleibe einmal
mehr aussen vor. Mensch darf gespannt sein, ob der Abschnitt "OPs in den
Zwanzigern und Dreissigern" die längst überfällige kritische Aufarbeitung der
medizinischen Verbrechen von Prof. Dr. Hugh "Schnipp, Schnapp!" Hampton Young
bringt, der an der Johns Hopkins University das Zwangsoperieren salonfähig
machte und so die chirurgischen Voraussetzungen für John Money schuf (der
allzuoft als Alleinschuldiger an den Menschenrechtsverbrechen an Zwittern
geschildert wird).
Erster Eindruck: Punkto Menschenrechte und Ethik wird es
das Buch wohl schwer haben, an das exzellente "Surgically Shaping Children"
(Hrsg. Erik Parens) heranzukommen aus dem gleichen Verlag (in Zusammenarbeit
mit dem Hastings Center).
>>> Vorabinfo Oregon University
Inhaltsverzeichnis (laut OpenLibrary.org):
- Hermaphrodites, monstrous births, and same-sex intimacy in early
America
- From monsters to deceivers : early 19th century
- The conflation of hermaphrodites and sexual perverts at the turn of the
century
- Cutting the gordian knot : gonads, marriage, and surgery 1920s and
1930s
- Psychology, john money, and the gender of rearing 1940s, 1950s,
1960s
Nachtrag zum 4. Kapitel (OPs während der 20er und
30er):
Leider entpuppt sich das Buch einmal mehr als die übliche
Zwangsoperateur-Verharmlosung. Zwar gibt es einen Abschnitt "Soziale
Rechtfertigung für die Operationen" (hier wie im folgenden handelt es sich
jeweils um meine Übersetzungen), wo belegt wird, dass die "primäre
Motivation" für die Chirurgen "eher sozialer Art" seien als
"strikt medizinisch" (S. 86). Dass es (mit der einzigen Ausnahme von
Verschlüssen oder Behinderungen im harnableitenden System, die aber nicht
erwähnt werden) schlichtwegs keinerlei medizinische Begründung
für die Genitaloperationen überhaupt gibt, wird hingegen vornehm
ausgelassen.
Absolut enttäuschend auch der Abschnitt "Ethik der Operationen" –
ethische Erwägungen bleiben dort nämlich ebenfalls schlicht aussen vor. Zwar
wird einmal kurz festgehalten, "Chirurgen selbst" hätten später
"bestürzt auf diese Periode zurück[ge]blickt", die einzige angeführte
Belegstelle nimmt aber nicht einmal konkret auf Genitaloperationen an Zwittern
Bezug, sondern es geht um das Anlegen künstlicher Dickdarmausgänge (S. 91).
Zwar räumt die Autorin an einer Stelle ein, "Männer, Frauen und Kinder
kamen zu den Ärzten auf der Suche nach Hilfe, und verliessen sie oft in einem
schlechteren Zustand, körperlich und seelisch, als sie sie aufsuchten" (S.
91), aber genauer will sie es offenbar lieber nicht wissen.
Die kritischste Aussage, zu der sich Elizabeth Reis durchzuringen vermag,
lautet: "In den 20ern und 30ern, offen gesagt, experimentierten die Ärzte
mit den Körpern all ihrer PatientInnen" (S. 91), sowie folgende
Passage, die wohl allen heutzutage zwangsoperierten Zwittern als der pure Hohn
vorkommen wird: "Wir können vernünftigerweise nicht von der Vergangenheit
diejenigen Standards verlangen, die wir heute erwarten, aber wir können
kritisch sein gegenüber allzu optimistischen Berichten, welche die Mediziner
über ihre chirurgischen Praktiken veröffentlichten. Heute verlangen
PatientInnen und ÄrztInnen [!!!!!] [...] evidenzbasierte Behandlungen."
(S. 92)
Dementsprechend kommt auch Hugh Hampton Young, der unselige Wegbereiter John
Moneys, der die Zwangsoperationen in unsäglicher "Fleischlego-Manier" im Johns
Hopkins Universitätsspital zur Serienreife brachte, ohne jegliche ethische oder
gar menschenrechtliche Kritik weg – kritisert wird er einzig dafür, dass er zu
sehr in den damaligen Ideen vom "falschen" und dem "richtigen Geschlecht"
verhaftet gewesen sei.
(Wenigstens geht Elizabeth Reis damit nicht soweit wie Anne Fausto-Sterling,
die in ihrem Buch "Sexing the Body" für Dr. "Schnipp, Schnapp" Young
ausschliesslich Lob übrig hat [!!!], und sich gar zur Behauptung versteigt,
Young habe nie Zwitter "zur Behandlung zwingen wollen", siehe dort S.
42 – peinlicherweise bringt Fausto-Sterling auf S. 92 selbst ein Beispiel, das
das Gegenteil belegt ...)
Ein rarer Lichtblick, auf S. 113 räumt Elizabeth Reis immerhin ein, es sei
leicht zu verstehen, wie die Medizyner darauf verfielen, die verhängnisvollen
GenitalOPs möglichst früh an Kleinkindern zu praktizieren (die können sich
nämlich nicht wehren, und auch Eltern sind im ersten Schock am leichtesten
herumzukriegen).
Fazit, auch bei Elizabeth Reis' "Bodies in Doubt" geht einmal mehr
weniger um Ethik und Menschenrechte auch für Zwitter, sondern um
"Gender"(Theorie). Trotzdem bietet das Buch einen ergreifenden historischen
Überblick über die Behandlungsmethoden an Zwittern, wenn auch eine Tendenz zur
allgmeinen Schönfärbung und zur Verklärung der "aufgeklärten" Gegenwart im
Speziellen unübersehbar sind.