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Teil I /
Teil II
Verdrängung als Selbstschutz
Als ich die Unterlagen zur
Genitaloperation in meiner Krankenakte fand, dachte ich zuerst an einen
Irrtum, meinte, es müsse sich um Unterlagen aus einer anderen Akte handeln. Ich
hatte die Operation komplett aus meinem Gedächtnis gelöscht (2), wusste absolut
nichts mehr davon. Neben der Erkenntnis, dass ich massiv operiert wurde, hat es
mich sehr erschüttert, dass ich das dermaßen verdrängt hatte, weil es zu
schrecklich war. Ich habe mich dadurch geschützt, hatte mir sogar eine
'Ersatzerinnerung' zurecht gelegt, die darauf beruhte, dass meine Mutter auf
mein Nachfragen sagte, dass man mir nur ein bisschen überschüssige Haut
entfernt habe, ambulant.
Am 20.7.1972 wurde ich dann am Herz operiert. Im selben Jahr haben mir die
Mediziner also das Leben gerettet und vieles unwiederbringlich zerstört.
Mit achtzehn Jahren wurde eine Vaginalplastik durchgeführt. Diese Operation
wollte ich selbst, da mir gesagt wurde, dass ich 'so' keinen Freund haben
könne. Ich habe mir aber geschworen, dass es die letzte sein soll und dass ich
danach nie wieder zu einem Arzt gehen würde. Ich gehe auch heute nur im
äußersten Notfall zum Arzt, gynäkologische Untersuchungen meide ich seit Jahren
ganz.
Verlorene Jahre
Heute, mit 42 Jahren, lebe ich immer noch (zäh, wie eine Katze, sagt mein Vater
immer) und hatte bisher keine besonderen gesundheitlichen Probleme, wobei man
das eigene Erleben nur bedingt mit anderen vergleichen kann. Nun beginne ich
mir Gedanken betreffend meiner contrachromosomalen Hormonersatztherapie
als Folge der Kastration und den möglichen Folgeschäden zu machen, die sich
abzuzeichnen scheinen: seit etwa zwei Jahren habe ich vermehrt Gelenkschmerzen
(Rücken, linke Hüfte, Knie, Füsse) nach nur einer Stunde spazieren mit Hund
(vorher kein Problem), habe oft bleischwere Beine, fast täglich
Schwindelgefühle, wieder vermehrt Hitzewallungen, Müdigkeit. Ich bin sehr dünn
geworden. Vor zwei Jahren hat man bei mir eine Vorstufe zur Osteoporose
diagnostiziert. Heute habe ich mit ziemlicher Sicherheit eine Osteoporose. Ich
sollte mich deshalb aufraffen und doch wieder mal zum Arzt gehen.
Meine psychischen Probleme konnte ich zum größten Teil in einer Psychoanalyse
(seit sieben Jahren in Behandlung) aufarbeiten. Ich werde jedoch mein Leben
lang unter den Folgen dieser menschenverachtenden Behandlung leiden. Ich bin
weder Mann, noch Frau, aber vor allem bin ich auch kein Zwitter mehr. Ich
bleibe Flickwerk, geschaffen von Medizinern, verletzt, vernarbt. Ich muss mich
neu erfinden, wenn ich weiter leben will.
Heute habe ich dank Jahre langer Psychoanalyse meinen inneren Frieden gefunden,
kann wieder Nähe und Liebe zulassen. Und dennoch ist es schwierig. Ich fühle
mich wie jemand, der nach vierzig Jahren aus dem Koma erwacht ist, seine Hände
betrachtet und realisiert, wie die Zeit vergangen ist und wie wenig er vom
Leben hatte. Mein körperlicher Urzustand ist unwiederbringlich verloren. Meine
Identität, meine Würde wurden mir genommen. Nun mache ich mich auf, um sie mir
wieder zurück zu erobern!
Nella, Februar 2008
(2) Bei Dissoziationen (auch dissoziative
Störungen genannt) handelt es sich um eine vielgestaltige Störung, bei der es
zu einer teilweisen oder völligen Abspaltung von psychischen Funktionen wie des
Erinnerungsvermögens, eigener Gefühle (Schmerz, Angst, Hunger, Durst, …), der
Wahrnehmung der eigenen Person und/oder der Umgebung kommt."
(...) (http://de.wikipedia.org/wiki/Dissoziation_(Psychologie)
Vgl. auch dissoziative Amnesie: "Das Abkoppeln des expliziten Gedächtnisses von
diesem "Eigenleben" der niederen Steuerungsebenen erklärt die bei
Traumatisierten häufig beobachtbaren dissoziativen Symptome: das
Nicht-Erinnerungsvermögen an Trauma-Situationen nennt man auch dissoziative
Amnesie. Die Abtrennung des Großhirns vom Nachrichtenfluss bewirkt, dass keine
oder nur wenige sinngebenden Bewertungen vorhanden (bzw. physiologisch möglich)
sind und auch kaum etwas im expliziten Gedächtnis gespeichert ist. Da die
impliziten Gedächtnisse zustandsabhängig arbeiten, werden die dort
gespeicherten Informationen nach dem Ende der Lebensgefahr manchmal nicht mehr
aktiviert; sie scheinen "vergessen" (Amnesie). Oder sie werden in bestimmten
Situationen aktiviert, scheinen aber sinnlos zu sein, was dann zu Bewertungen
durch die Umgebung wie "hochsensibel" führen kann."
(http://www.aufrecht.net/utu/trauma.html)