Von
Anfang an keine Chance
Ich bin 1965 mit einem schweren Herzfehler und uneindeutigem Genitale geboren.
Aufgrund des Herzfehlers wurde ich ein paar Tage nach meiner Geburt notgetauft,
da die Mediziner davon ausgingen, dass ich nicht lange überleben würde. Sie
behielten mich in der Folge im Krankenhaus, meine Eltern durften mich nicht
nach Hause nehmen. Mein Vater musste arbeiten, meine Mutter reiste so oft wie
möglich aus dem weit entfernten Bergdorf in die Stadt, durfte mich jedoch nur
durch eine Glasscheibe anschauen.
Als meine Eltern mich nach drei Monaten endlich nach Hause nehmen durften, war
ich gezeichnet von den Folgen eines Hospitalismus(1). Ich hätte so schlimm
ausgesehen, dass sie sich geschämt habe, mit mir im Dorf spazieren zu gehen,
erzählte mir meine Mutter.
Die Mediziner begründeten diese Maßnahme mit der Infektionsgefahr aufgrund des
Herzfehlers. Während diesen drei Monaten wurden gemäß Krankenakte auch
verschiedene Untersuchungen aufgrund meines uneindeutigen Genitales
durchgeführt, wobei festgestellt wurde, dass sich im Bauchraum Hoden befanden
und ich über einen männlichen Chromosomensatz verfüge.
Der Befund meines äußeren Genitales:
„Prima vista aussehend wie bei AGS. Der Penis ist 2 cm lang, das Scrotum
nicht ausgebildet, sondern in Form von zwei Labia majora vorhanden. Kein Sinus
urogenitalis, beim Perineum befindet sich die Mündung der Urethra. Diese ist
nicht stenosiert, sie weist dorsalseits eine reizlose Narbe auf."
Trotz meines lebensbedrohenden Herzfehlers wurde ich Anfang September 1965 im
Alter von 2 1/2 Monaten kastriert, was aus zwei Sichtweisen unverständlich ist:
Diese Operation barg einerseits aufgrund meines Herzfehlers ein großes Risiko.
Andererseits machte sie aufgrund der angenommenen geringen Lebenserwartung
keinen Sinn. Es liegt also nahe, dass die Ärzte in Kauf genommen haben, dass
ich an den Folgen der Narkose und des Eingriffs sterbe, dass ihnen das
'Experiment' wichtiger war.
Die durchgeführte Kastration wurde ohne Einwilligung meiner Eltern vorgenommen
und sollte ihnen in der Folge verschwiegen werden. Die Ärzte entschieden sich
dann doch anders:
"Entgegen dem früheren Entschluss, den Eltern nichts über die genitale
Situation zu sagen, kamen wir nach reiflicher Überlegung überein, den wahren
Sachverhalt trotzdem mit den Eltern zu besprechen, insbesondere da eine
gesteuerte Nachkontrolle über die nächsten 20 Jahre nicht gesichert ist.
(...)
2. Ihr Kind sei ein Mädchen und dieses Geschlecht sei ein für allemal
festgesetzt.
3. Bei der Operation hatte sich folgender Befund gezeigt: es sei kein Uterus
vorhanden gewesen, die Keimdrüsen seien missgebildet gewesen und hätten
entfernt werden müssen. Die Vagina sei kurz.
4. Während der Pubertät, d.h. mit etwa 10 – 11 Jahren, müsse das Kind unbedingt
strengestens überwacht werden, und es müsse zur rechten Zeit mit einer
hormonellen Behandlung eingesetzt werden.
5. Nach der Pubertät müsse eine weitere korrektive Operation (gemeint
Vaginalplastik, die Details wurden selbstverständlich nicht mit den Eltern
besprochen) durchgeführt werden."
(17. September 1965)
An anderer Stelle heißt es (und natürlich ist wie üblich von 'Eierstöcken' und
nicht von 'Hoden' die Rede):
"Besprechung mit Eltern: Entgegen dem früheren Entschluss kamen wir überein,
dass man den Eltern doch sagen muss, dass das Kindlein kastriert werden musste
und in der Pubertät streng überwacht werden müsste, da die Nachkontrolle eben
nicht gesichert ist und die Mutter eine [...] ist und ev. zu einem späteren
Zeitpunkt nach [...] verschwinden kann."
Die Kastration wurde später als Fehler beurteilt:
"7. Weiteres Procedere: Ich habe den Fall unmittelbar nach der Cystoskopie
nochmals mit Herrn Prof. (...) besprochen. Es liegt seiner Ansicht nach ein
männliches Geschlecht mit Hypospadie vor. Obwohl er selbst bei der früheren
Beurteilung und vor der Castratio anwesend war, glaubt er retrospektiv doch,
dass ein Fehler begangen wurde. Die Situation ist nun jedoch so, dass auf
diesem Wege fortgefahren werden muss und aus dem kleinen Patienten ein
Mädchen gemacht werden muss. Zur Frage der Vaginalplastik äussert er sich so,
dass diese sobald wie möglich durchgeführt werden sollte und nicht erst dann,
wenn sich das Kind darüber im Klaren wird.“
Fazit: Ich wurde im Alter von nur 2 1/2 Monaten trotz eines lebensbedrohenden
Herzfehlers ohne die Einwilligung meiner Eltern kastriert und die Kastration
stellte sich später als Fehler heraus!
(1) "Unter Hospitalismus (ursächlich auch
Deprivationssyndrom genannt) versteht man alle negativen körperlichen und
seelischen Begleitfolgen eines längeren Krankenhaus- oder Heimaufenthalts. Dies
beinhaltet auch mangelnde Umsorgung und lieblose Behandlung von Babys und
Kindern, in der Psychiatrie Symptome infolge von Heimaufenthalt, oder durch
Folter oder Isolationshaft. Der Ausdruck Deprivationssyndrom stammt vom Begriff
Deprivation, lateinisch deprivare - berauben in Bezug auf Reize und Zuwendung."
(http://de.wikipedia.org/wiki/Hospitalismus)
Vgl. auch Deprivationssyndrom: "Als Deprivation (auch Deprivationssyndrom,
anaklitische Depression) bezeichnet man in der Pädiatrie (Kinderheilkunde) die
mangelnde Umsorgung und fehlende Nestwärme bzw. Vernachlässigung von Babys und
Kleinkindern. Hospitalismus tritt häufig in Krankenhäusern, Säuglingsstationen
und Heimen auf. Dauert die Deprivation länger an, kommt es zu psychischem
Hospitalismus und zur Unfähigkeit, soziale Kontakte aufzubauen, dem Autismus
ähnelndem Verhalten oder zu Sprachstörungen. "
(http://de.wikipedia.org/wiki/Deprivation)