Die Zwitter Medien Offensive™ geht weiter!
In der >>> Beobachter-Titelgeschichte zum Thema "Intersex" war auch ein Interview mit einem Betroffenen mit dabei, das als einziges auf der Beobachter-Homepage öffentlich zugänglich ist – allerdings nur in arg verstümmelter Form, die z.T. mehr Fragen aufwirft als Antworten liefert (so auch z.B. >>> auf dem Hermaphrodit Forum). Im Gegenzug enthält sie Falschinformationen (Erich Marti lebte nie "in einem Heim").
Das autorisierte Interview gibt einen Einblick in die Lebenswelt von "in Richtung männlich" operierten Betroffenen ("Hypospadiekorrekturen") – in der Zeit, als dies mit Erich Marti gemacht wurde, die grosse Ausnahme (vgl. dazu auch die Biographie des Betroffenen Enst Bilke). Dieser Blog dokumentiert deshalb nachfolgend die ursprüngliche, von Erich Marti gegengelesene Version des Artikels. Einige zentrale ausgelassene Passagen sind dabei fett markiert. (Die gekürzte Version wurde, wie auch anderes im Hauptartikel, vom "Beobachter" ohne das OK des Betroffenen publiziert.)
Erich Marti* ist anders als die meisten anderen. Bestätigen wollte ihm das niemand. 70 Jahre lang behaupteten Ärzte, Verwandte und Eltern er sei ganz normal. 70 Jahre lang fühlte Marti, dass das nicht stimmen konnte.
Marti steht in seinem Arbeitszimmer. Die Wände sind bis zur Decke mit Büchern und Ordnern gefüllt. Der Wissenschaftler, der an den besten Universitäten dieser Welt studiert und später gearbeitet hatte, suchte sein Leben lang nach einer Antwort. Nach einem Mediziner, der ihm erklärt, dass er sich nicht getäuscht, sich diese Andersartigkeit nicht eingebildet hatte.
Als der damals 14-Jährige zum ersten Mal mit anderen Jungen duschte, bemerkte er, dass er anders gebaut war. Wo die anderen eine Wölbung hatten, ging es bei ihm einfach flach hinunter. Seine Mitschüler lachten ihn aus und riefen ihm Fräulein hinterher. Als der Bart bei den anderen Buben allmählich begann zu spriessen, blieb Martis Gesicht fein wie das eines Mädchens. Während die Kumpanen einen definierten Bizeps entwickelten, fuhr Marti immer noch zum halben Preis Bus, weil er so kindlich aussah. Mit seinen Eltern konnte er darüber nicht sprechen. Der Arzt, den Marti um Hilfe bat, behauptete, alle sei gut und verschrieb ihm Vitamin E zur Ankurbelung der Testosteronproduktion. Genützt hatte es nichts.
Allmählich wurde der Grünschnabel flügge. Mit Mädchen verstand sich Marti immer glänzend. Doch kaum kamen sie sich näher, stiess Marti an seine Grenzen. „Irgendwo hatte ich aufgeschnappt, dass ein Mann mit seinem Penis in eine Frau eindringen muss, damit ein Kind entsteht. Ich schaute mich an und fragte mich, wie zum Teufel das funktionieren sollte“, erklärt Marti. Auch als er wie die anderen Knaben einmal heimlich Kondome kaufte, war er hinterher mehr verwirrt als aufgeklärt. Dennoch hat er sich deswegen nie abnormal gefühlt. „Sex war ein Tabu. Wir hatten keine Ahnung, was normal ist und was nicht. Ich konnte mir deshalb auch nicht wirklich einen Reim darauf machen, was nun wie sehr mit mir nicht stimmte“, erinnert sich Marti.
Es war am Tag vor seiner Hochzeit als Martis Mutter nach 30 Jahren endlich ihr Schweigen brach. „Du bist operiert“, warnte sie mich. „In der Hochzeitsnacht wird nicht alles funktionieren“, erklärte sie weiter. Marti verwirft die Hände. Noch heute wird er wütend, wenn er sich daran zurückerinnert. „All die Jahre liess sie mich im Ungewissen und dann, als ich endlich eine Frau gefunden hatte, belastete sie mich damit“, entfährt es dem 70-Jährigen. Zwei Jahre nach dieser Offenbarung verstarb Martis Mutter. Was genau mit ihm nach der Geburt geschehen war, sollte sie für immer für sich behalten. In Martis Ehe wurde seine Besonderheit bald zur Belastung. Kam dazu, dass sein operiertes Geschlechtsteil extrem berührungsempfindlich war und bei Erregung stark schmerzte. Seine Frau bestand schnell einmal auf getrennten Schlafzimmern.
In Martis Familie und deren Bekanntenkreis gab es mehrere Ärzte. Marti ging von einem zum anderen, wollte wissen, was mit ihm gemacht wurde. Jeder winkte ab: alles gut, alles normal. Seine lange Suche nach einer Antwort führte ihn sogar zu einer erotischen Masseurin. Er bat sie, sein Glied mit dem anderer Kunden zu vergleichen und zu erklären, worin es sich unterscheidet. „Sie sagte mir, dass er ganz anders aussieht. Dass da gar nichts sei und bei mir bestimmt etwas verkehrt gelaufen ist“, erinnert sich Marti. Er hatte die Hoffnung schon aufgegeben, als er zufällig ein Gespräch zweier mit ihm bekannter Ärzte mitverfolgte, die vergessen hatten, die Behandlungszimmertüre zu schliessen: „Hast du gesehen, der hat keinen Penis. Das ist ein Intersexueller.“ Als Marti zurück in den Behandlungsraum ging, stellte er den Arzt zur Rede. Doch wieder nichts.
Allmählich kam das Internet auf und damit der Zugang zu einer unglaublichen Fülle an Informationen. Informationen, die man ihm so viele Jahre verwehrt hatte. Er sah sich Bilder an, las Erfahrungsberichte, kontaktierte eine Selbsthilfegruppe. „Ich bin Wissenschaftler. Für mich ist etwas erst sicher, wenn es bewiesen ist. Ich wollte einen Beweis.“
Also ging er an seinem 70. Geburtstag zum Kinderarzt Primus Mullis im Inselspital Bern. Aus Dokus und Berichten wusste er, dass Mullis mit intersexuellen Kindern zu tun hatte und nun wollte auch er eine Antwort von ihm.
Und er bekam sie. Nach einer kurzen Untersuchung, stellte der Erwachsenen-Endokrinologe Emanuel Christ die Diagnose: Marti hat einen Mikropenis und wurden wegen einer Hypospadie – die Harnröhre mündet unterhalb der Penisspitze – kurz nach der Geburt operiert. Er habe Glück gehabt, dass er nicht wie die meisten zum Mädchen umoperiert worden sei. Tests haben ergeben, dass Marti wahrscheinlich unter einer partiellen Gonadendysgenesie, einer Fehlentwicklung der Keimdrüsen, leidet, welche die Entwicklung seines männliches Genitals verhinderte. Ein Sonderfall. Bisher kaum erforscht. Umso grösser das Interesse der Ärzte. Unterdessen wurde Martis Erbgut zu Forschungszwecken Mäusen eingepflanzt. „Den Forschungstrieb verliert man auch nach der Pension nicht. Ich möchte unbedingt mehr darüber erfahren. Vor allem interessiert es mich, inwieweit dieser Defekt vererbbar ist“. Denn: Marti hat einen Sohn. Obschon die meisten Betroffenen partieller Gonadendysgenesien unfruchtbar sind, hatte Marti diesbezüglich Glück. Ein Hoden war funktionstüchtig und ermöglichte es ihm, mittels künstlicher Befruchtung ein gesundes Kind zu zeugen.
Doch Martis Sohn, weiss bis heute nichts von der Besonderheit seines Vaters. „Ich wollte ihn nicht mit Vermutungen verwirren. Nun, da ich weiss, was mit mir los ist, werde ich es ihm erzählen.“
Heute mit 70 Jahren sieht Marti seine ewige Suche nach einer Antwort gelassen. „Mir geht es gut. Ich hatte ein schönes Leben, trotz dieser Ungewissheit“, erklärt Marti. Er schaut zum Fenster hinaus, klappt ein Buch über Intersexualität zu und sagt: „Dennoch wäre es irgendwie schön gewesen, zu wissen, was ich bin und weshalb ich so bin. Es hätte einige Entscheidungen vereinfacht. Doch ich bin dankbar dafür, dass ich nach all diese Jahren, nun endlich all die Antworten bekomme, nach denen ich mein Leben lang gesucht habe.“
Nachtrag 2018:
Als Kinderspital und Universität Zürich 2016 bekanntgaben, im Rahmen des Nationalfonds-Projekts Nr. 169575 die Behandlung von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung (DSD) im Kispi aufzuarbeiten und den Betroffenen ihre Krankenakten im Staatsarchiv Zürich zugänglich zu machen, schöpfte Erich Marti neue Hoffnung, nun endlich zu erfahren, was als Kind mit ihm ggemacht wurde – nur um erneut schändlich betrogen und bitter enttäuscht zu werden.
Denn trotz Protesten von Betroffenen liessen Kispi und Uni vorgängig ca. 80% aller relevanten Krankenakten vernichten – offensichtlich auch diejenige von Erich Marti. Denn als er mit Unterstützung der Menschenrechtsgruppe Zwischengeschlecht.org beim Staatsarchiv um Einsicht anfragte, war seine Akte nicht mehr da – lediglich ein Registereintrag war noch übrig, der allerdings bestätigte, dass Erich Marti 1945 und 1946 zweimal im Kispi in der kinderchirurgischen Abteilung operiert worden war! >>> mehr
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