Die Dorfjugend führt Ungutes im Schilde ...
Vor einer Woche wurde ich vom Schweizer Verleiher Xenix zur Pressevorführung
des Spielfilms "XXY" der argentinischen Regisseurin Lucía Puenzo eingeladen.
Seelenlos und Nadja, eine Geschlechtsgenossin, waren auch dabei.
Inhalt
Die fünfzehnjährige Alex ist 'intersexuell' und wohnt mit ihren Eltern inmitten
der Natur, verbunden mit dem Meer, dem Sand, dem Wetter. Ihre Eltern sind aus
Buenos Aires in den abgelegenen Ort an der Küste Uruguays gezogen, um Alex vor
dem Geschwätz der Leute und dem Drängen der Mediziner zu schützen. Doch auch in
diesem abgeschiedenen Paradies finden sie keine Ruhe, es kommt bald zu
Gerüchten. Alex geht nicht mehr in die Schule, zieht sich mehr und mehr
zurück.
Die besorgte Mutter wendet sich an einen befreundeten Chirurgen. Dieser soll
helfen, soll Alex operieren, noch ist es nicht zu spät. Weder Alex noch ihr
Vater sind vorerst eingeweiht. Mit der Ankunft des Chirurgen, der mit seiner
Frau und seinem Sohn anreist, entspinnt sich ein Beziehungsgeflecht, dass durch
eine beklemmende Atmosphäre bestimmt wird: Alex' Mutter bespricht sich mit dem
Chirurgen, schiebt das Gespräch mit ihrem Mann und Alex jedoch vor sich hin.
Der Chirurg beobachtet indessen Alex, die aber meistens draussen in der Natur
ist - mit Alvaro, dem Sohn des Chirurgen, in den sie sich verliebt, was
wiederum ihren Vater beunruhigt. Als Alex endlich den wahren Grund des Besuches
erfährt und bald darauf von Jungen aus dem Dorf belästigt wird, bricht die
ganze Kulisse aus Vedrängung und Verstecken auseinander. Zurück bleiben
Menschen, die alle irgendwie erwachsener geworden sind (abgesehen vom Chirurgen
und dessen Frau). Der Schluss lässt alles offen. Eines ist jedoch klar: Alex
soll selber über ihren Körper und ihre Zukunft entscheiden. Der Chirurg reist
unverrichteter Dinge wieder ab.
Bedrohte Natur
Der Film geht von Anfang an unter die Haut. Ob es einem Nicht-Zwitter auch so
ergeht, kann ich nicht sagen. Ein beklemmendes Gefühl macht sich gleich zu
Beginn breit, es ist dieses altbekannte Gefühl, etwas Bedrohliches liegt in der
Luft, obwohl alles so harmlos aussieht - auf den ersten Blick. Alex'
natürliches Paradies ist bedroht, denn in diese Welt kommt nun etwas, vor dem
die Familie vor Jahren geflohen ist: die Definitionsmacht der Unnatur, Gender,
sozusagen.
Ein dumpfes Gefühl macht sich in der Magengegend breit, wenn beispielsweise der
Chirurg (ein gutaussehender schleimiger Typ mit hellen, arroganten Augen - wie
gehabt) zu Beginn des Films auf der Überfahrt mit einem Buch und irgendwelchen
Unterlagen über Alex beschäftigt ist. Verstohlen schiebt er ein Foto von Alex
zurück zwischen die Unterlagen, als er den neugierigen Blick seines Sohnes
bemerkt. Da kommt wohl jedem Zwitter die Galle hoch, falls ihn nicht das
Grausen packt: Bevor der Chirurg den jungen Menschen Alex überhaupt
kennengelernt hat, ist dieser schon fotografiert und dokumentiert: der zu
behandelnde Zwitter. Dass ausser Alex' Mutter niemand den wahren Grund seines
Besuches kennt, macht das Ganze noch perverser. Da hat jeder Begrüssungskuss zu
Beginn des Films etwas Klebriges und Verlogenes an sich.
Verrat
Dieses Gefühl des Ausgeliefertseins drückt sich auch in einer Szene aus, als
der Chirurg in der Küche steht und Fleisch in Scheiben schneidet. Alex kommt,
nur mit Shirt und Slip bekleidet, in die Küche, fischt den Milchkarton aus dem
Kühlschrank und trinkt daraus, ein Tropfen Milch rinnt ihr am Kinn runter. Alex
nimmt sich ein Stück vom geschnittenen Fleisch, kaut es, fragt den Chirurgen
herausfordernd, ob er gerne Körper aufschneide. Na ja, ziemlich klischeebeladen
das Ganze, aber hinter jedem Klischee steckt ja bekanntlich mindestens ein
Körnchen Wahrheit. Auch wenn oder vielleicht gerade weil Alex hier
selbstbewusst und stark wirkt: Gefühle des Ekels und der Scham kommen bei
dieser Szene in mir auf, denn es ist eine Missbrauchsszene, Alex ist das Opfer.
Denn die wollen ihr ihre Stärke nehmen. Bestandteil praktisch jeder
Zwitter-Biografie. Auf der einen Seite der Chirurg, der über Alex und ihren
Körper Bescheid weiss und deshalb zu Besuch ist; auf der anderen Seite Alex,
jung, verspielt, halb nackt und - ahnungslos.
Zwar bedient sich der Film so manchen Klischees und Lucía Puenzo nimmt es
biologisch nicht so genau (und unterstützt damit diffuse Vorstellungen über
'Intersexualität', wie dies
leider auch beim Filmtitel der Fall ist, was wir
dank
der Kooperation des Schweizers Verleihers Xenix jedoch wieder etwas
'ausbügeln' konnten). Dennoch ist es der Regisseurin gelungen, auf emotionaler
Ebene umzusetzen, wie es einem zwischengeschlechtlichen Menschen ergeht, der
belogen wird und Gefahr läuft, um seine Selbstbestimmung betrogen zu werden
(endlich mal ein Film, wo ich mich so richtig mit der Hauptdarstellerin
identifizieren kann und mich zusätzlich mit ihr freuen kann, dass sie davon
kommt). Der Film löst schmerzliche Gefühle aus, die auch mein Leben massgebend
beeinflusst haben. Andererseits erinnern mich Szenen im Film an andere
Filmszenen: wenn beispielsweise jemand über einen anderen Macht hat, weil er
mehr weiss über den anderen, als der andere über sich selber. Was macht also
aus "XXY" einen Film über Zwitter? Der Zwitter, der den Film anschaut?
Vertrauen
Vielleicht ist es auch ein Film über Zwitter für alle: ein Film, der in einer
einfachen Sprache zentrale menschliche Werte, die zwischengeschlechtliche
Menschen in besonderem Masse vermissen mussten, in ruhige Bilder umsetzt:
Respekt, Ehrlichkeit, Würde, Freiheit - und Selbstbestimmung: die zentrale
Botschaft des Films. "XXY" ist letztendlich aber ein Film über die stille Kraft
der bejahenden Liebe, über alle Hindernisse hinweg. Wenn Alex ihren Vater
fragt, warum er ihr nicht gesagt habe, dass der Chirurg ihretwegen da sei, und
der Vater ihr antwortet: Weil ich es nicht gewusst habe. Wenn sich darauf Alex'
Gesicht verändert, als würde die Sonne darauf aufgehen. Dann kommen einem schon
die Tränen, weil man das eigentlich auch immer gewollt hat: geliebt und
akzeptiert werden als das, was man ist. Von den Eltern, von der
Gesellschaft.
In einer weiteren, sehr bewegenden Szene erfährt Alex' Vater von einem anderen
zwischengeschlechtlichen Menschen dessen Lebensgeschichte. Dieser hatte weniger
Glück als Alex, musste als Kleinkind die ganzen unwürdigen medizinischen
Begutachtungen und mehrere Zwangsoperationen wehrlos über sich ergehen lassen
und fasst zusammen: "Das ist das Schlimmste: Dass sie einem als Kind Angst
machen vor dem eigenen Körper."
Es ist zu hoffen, dass das Publikum und insbesondere (zukünftige) Eltern von
zwischengeschlechtlichen Kindern diese Botschaft mit nach Hause nehmen und
Menschlichkeit walten lassen.
Nella
Trailer mit deutschen Untertiteln
XXY - argentinischer Spielfilm über jungen zwischengeschlechtlichen
Menschen
XXY
- der Film: Schweizer Verleiher nimmt Problematik ernst
Berichte zum Deutschlandstart von "XXY"
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