Foto: Gewaltfreier Intersex-Protest @ UNHRC UPR #14, Genf 20.10.2012
Pressemitteilung von Zwischengeschlecht.org, 22.11.2021:
Anlässlich seiner 133. Session in Genf prüfte der UN-Menschenrechtsausschuss als Vertragsorgan des UN-Zivilpaktes (CCPR) die Menschenrechtsbilanz Deutschlands – und rügte nun Deutschland unmissverständlich wegen IGM (CCPR/C/DEU/CO/7, Abs. 20-21, vollständige inoffizielle Übersetzung siehe unten).
Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) fährt trotzdem unbeirrt seinen Pro-IGM-Kurs weiter – u.a. in einem aktuellen Policy Paper und an einer heutigen Fachtagung in Merseburg.
Krasse Falschaussagen durch BMFSFJ in Genf
Aufgrund von Schattenberichten von Zwischengeschlecht.org hatte der UN-Menschenrechtsausschuss Deutschland während der Staatenprüfung in Genf konkrete Fragen zu Intersex-Genitalverstümmelung (IGM) gestellt, u.a. betreffend der “durchschnittlich 1900 vermännlichenden und verweiblichenden Operationen pro Jahr an Intersex-Kindern im Alter bis zu 9 Jahren” sowie zur – auch unter dem neuen sogenannten “Verbot” nach § 1631(e) BGB weiter andauernden – Straflosigkeit von IGM, bestens dokumentiert durch zahlreiche, meist erfolglose Versuche von IGM-Überlebenden, vor deutschen Gerichten Gerechtigkeit und Entschädigung zu erlangen.
In ihren ausweichenden Antworten verstieg sich die deutsche Delegation wiederholt zu krass tatsachenwidrigen, leicht widerlegbaren Falschaussagen. U.a. behauptete die Sprecherin des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) allen Ernstes, laut § 1631(e) BGB sei angeblich
- die Verjährung bei IGM ausgesetzt bis zum “48. Lebensjahr” (Tatsache: das neue Gesetz sieht – trotz wiederholter entsprechender Kritik durch Betroffenenorganisationen und RechtsexpertInnen – keine Verlängerung der Verjährung vor, die angesprochene Frist bezieht sich stattdessen auf die Aufbewahrungsfrist der Krankenakten)
- die Praxis des “Bougierens” (d.h. Vaginaldehnungen) “ausdrücklich verboten” (Tatsache: Das neue Gesetz enthält kein ausdrückliches Verbot von Bougierungen – ein solches war u.a. vom Bundesrat und Oppositionsfraktionen gefordert, aber von Bundesregierung und der Regierungskoalition abgelehnt worden)
Deutliche CCPR-Rüge: § 1631(e) BGB klar ungenügend
Als Folge hat der Menschenrechtsausschuss nun in seinen “Abschließenden Bemerkungen” Deutschland wegen IGM deutlich gerügt. Insbesondere zeigte sich der Ausschuss besorgt über die bekannten, von Betroffenen wiederholt kritisierten Schlupflöcher in § 1631(e) BGB, namentlich die mangelnde strafrechtliche Haftbarkeit und den mangelnden Zugang zu Rechtsmitteln und Entschädigung für Opfer.
Unter Berufung u.a. auf Art. 2 (gleicher Rechtszugang und Recht auf Entschädigung) und Art. 7 (Verbot von unmenschlicher Behandlung, Folter und unfreiwilligen Menschenversuchen) des UN-Zivilpakts verpflichtete der Ausschuss deshalb Deutschland ausdrücklich,
- alle Formen von IGM ausdrücklich zu verbieten
- allen Opfern den Zugang zu Rechtsmitteln und Entschädigung zu gewährleisten, ggf. durch Einrichtung eines Entschädigungsfonds
- die Verjährungsfristen entsprechend anzupassen
- das aktuelle Gesetz entsprechend zu ändern
Schon die 4. UN-Rüge wegen IGM für Deutschland
Zwischengeschlecht.org begrüßt dieses klare und unmissverständliche Verdikt des Menschenrechtsausschusses, wenn wir auch festhalten, dass wir sämtliche uneingewilligten, nicht-vitalen Eingriffe mit psychosozialer Indikation an Intersex-Kindern als IGM verurteilen, unabhängig davon, ob ÄrztInnen oder GesetzgeberInnen sie zusätzlich als “geschlechtszuweisend, -vereindeutigend, -bestätigend” etc. einstufen oder nicht.
Nach dem UN-Ausschuss gegen Folter (CAT) 2011, dem UN-Ausschuss zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) 2015 und dem UN-Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau (CEDAW) 2017, welche IGM in Deutschland ebenfalls als grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung resp. als schädliche kulturelle Praxis einstuften, ist dies bereits die 4. UN-Rüge an Deutschland, welche IGM unmissverständlich als einen schweren Verstoß gegen unabdingbare Menschenrechte verurteilt.
Zwischengeschlecht.org sieht sich dadurch einmal mehr bestärkt in unserer langjährigen Forderung, dass Intersex-Kinder das gleiche Recht auf Schutz vor Genitalverstümmelungen, und erwachsene IGM-Überlebende das gleiche Recht auf Rechtszugang und Entschädigung haben wie z.B. Mädchen und Frauen auch, und dass IGM-TäterInnen genau gleich strafrechtlich belangt werden müssen wie andere VerstümmlerInnen, einschließlich durch entsprechende Anpassung der Verjährungsfristen und extraterritoriale Unterstrafestellung.
In Deutschland hatte u.a. 2014 bereits die 24. Konferenz der Gleichstellungs- und Frauenministerinnen und minister, -senatorinnen und -senatoren (GFMK) deutlich ein entsprechendes, effektives Verbot von IGM gefordert, u.a. unter Verweis auf § 226a StGB (FGM-Verbot), und angemahnt: “Ein entsprechender Schutzstandard ist auch für die ebenso schutzwürdigen intersexuellen Kinder zu implementieren [...].”
2017 hatte auch das EU-Parlament in der Entschließung 2016/2096(INI) klar gefordert, “die Genitalverstümmelung bei Frauen und intersexuellen Personen zu verhindern, zu verbieten und zu bestrafen”.
Die jüngste CCPR-Rüge an Deutschland wird auch kaum die letzte bleiben: Bereits 2022 wird sich in seiner 91. Session auch der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes (CRC) mit IGM in Deutschland befassen, der IGM ebenfalls konsequent als schädliche kulturelle Praxis einstuft – und aufgrund eines Schattenberichts von Zwischengeschlecht.org im Vorfeld Deutschland bereits kritische Fragen zur aktuellen Praxis stellte.
Aktuell ist die vorliegende CCPR-Rüge weltweit schon die 57. UNO-Rüge, die IGM als schweren Verstoß gegen unabdingbare Menschenrechte verurteilt, sowie bereits die 26. solche Rüge an ein EU27-Land.
BMFSFJ-Studie 2021: Unverändert pro IGM
Trotzdem werden die täglichen Intersex-Genitalverstümmelungen in den Kinderkliniken straflos weiterpraktiziert – gefördert, gerechtfertigt, verharmlost, verniedlicht und schöngeredet durch die Bundesregierung, z.B. durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) in einer aktuellen Studien (sowie an einer heutigen Fortbildungsveranstaltung, siehe unten) an der Hochschule Merseburg:
Ein im November 2021 veröffentlichtes “Policy Paper” (PDF) mit dem Titel “Verankerung der Wissens- und Kompetenzentwicklung zu den Themen Trans- und Intergeschlechtlichkeit in den Bildungslehrplänen und Curricula von Ausbildungs- und Studiengängen relevanter Sozial- und Gesundheitsberufe”, im Auftrag und gefördert vom BMFSFJ, und basierend auf dem ebenfalls BMFSFJ-geförderten Forschungsprojekt “Entwicklung von Vorschlägen für die curriculare Fortentwicklung der Ausbildungs- und Studiengänge von Sozial- und Gesundheitsberufen zur Integration von Trans- und Intergeschlechtlichkeit in die Bildungslehrpläne (CuFoTI)”, behauptet bequemerweise einmal mehr, über IGM in Deutschland sei halt noch zu wenig bekannt:
“Die Datenlage zu [...] Gewalt gegenüber intergeschlechtlichen Personen ist noch dünn.” (S. 14)
Dies wohlgemerkt nach 25 Jahren Protesten und Dokumentationen von IGM-Betroffenen, bald einem Dutzend Schattenberichten (z.B. CCPR 2021, PDF englisch), den obigen 4 UNO-Rügen etc. Dazu mittlerweile 3 teils ausführliche Studien zur aktuellen Praxis in Deutschland (PDF: 2016, 2016, 2019), teilweise gefördert durch dasselbe BMFSFJ und basierend auf Behandlungszahlen des Deutschen Amts für Statistik, welche belegen, dass jährlich durchschnittlich 1900 IGM-Eingriffe an Intersex-Kindern unter 9 Jahren durchgeführt werden. Sowie zahlreiche Studien aus Deutschland, die u.a. nachweisen, dass IGM mindestens ebenso gravierende Folgen hat wie FGM, und dass IGM-Überlebende vergleichbar selbstverletzendes Verhalten und Selbstmordtendenzen aufweisen wie Frauen nach körperlichem oder sexuellem Missbrauch (englisch – deutsche Teilübersetzung hier). Oder die Vielzahl der bekannten (bezeichnenderweise meist erfolglosen) Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit IGM, etc. pp.
Entsprechend fallen dann im “Policy Paper” auch die “Empfehlungen” aus: Unter “Allgemeine Inhalte” (S. 33) wird betreffend Intersex ausschließlich auf das “dritte Geschlecht” abgestellt – IGM wird gar nicht erwähnt. Und unter “Recht zu Intergeschlechtlichkeit” (S. 34) ist IGM das letztgenannte “Anhängsel” als 4. Punkt, während die Punkte 1-2 den “dritten Geschlechtseintrag” in den Vordergrund stellen, gefolgt von Punkt 3 “Diskriminierung”. Dies ist die übliche Umkehrung der Prioritäten der Betroffenen! Entsprechend werden unter “Recht” zu den Punkten 1-3 jeweils konkrete Handlungsfelder angeführt, während zu 4. IGM lediglich pauschal auf “Menschenrechtsverletzungen” verwiesen wird – die aber im “Policy Paper” nirgends substantiiert werden.
BMFSFJ-Fachtag 22.11.: Den Bock zum Gärtner gemacht
Ebenso propagiert ein BMFSFJ-geförderter “Fachtag TIN Medizin” von heute, 22.11.2021 an der Hochschule Merseburg (“Online-Fachtag Geschlechtersensible und leitliniengerechte medizinische Versorgung und Pflege von trans-, intergeschlechtlichen und non-binären Personen”) für “alle Fachkräfte aus dem gesundheitlichen Bereich” (“von der Landesärztekammer Sachsen-Anhalt mit 5 Punkten als Fortbildung anerkannt”) ungeschminkt die Fortführung der aktuellen IGM-Praxis.
So werden sowohl das Einführungsreferat zum Thema Intersex (“Intergeschlechtlichkeit/Variationen der Geschlechtsmerkmale: Biologische Grundlagen, Lebenswirklichkeiten, Bedürfnisse”) wie auch die Workshops zum Thema pädiatrische Intersex-Behandlungspraxis (“Workshop 1: AWMF-Leitlinie „Varianten der Geschlechtsentwicklung“ – Fragen für die Praxis”, “Workshop 3: Professioneller Umgang mit Intergeschlechtlichkeit”) von bekennenden IGM-Praktizierenden durchgeführt, nämlich von den MedizinerInnen Olaf Hiort, Ulla Döhnert und Louise Marshall (Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck – eine der größten und schlimmsten IGM-Kliniken in Deutschland).
Als Mitverantwortliche für zahllose IGM-Prozeduren u.a. in Lübeck und als “MeinungsführerInnen” in Pro-IGM-“Forschungsprojekten” wie “Netzwerk Intersexualität”, “Euro-DSD”, “DSDnet”, “DSD-Life”, “Endo-ERN” oder “DSDCare” werden diese drei MedizinerInnen seit langem von IGM-Überlebenden und Intersex-NGOs sowohl in Deutschland als auch international dafür kritisiert, Betroffene und ihre berechtigte Kritik gering zu schätzen und zu entwerten, und gleichzeitig IGM sprachlich in ein “gendergerechtes” Deckmäntelchen zu hüllen, um so noch möglichst lange straffrei weiter praktizieren zu können. Dies ist das mittlerweile international die Losung der IGM-MedizinerInnen-Vereinigungen: Gegen vorne öffentlich dem “natürlichen Spektrum der Geschlechtsentwicklung” huldigen und gleichzeitig hinter verschlossenen Türen weiterhin “funktionelle Störungen” und “urologische und hormonelle Defekte” chirurgisch “korrigieren”.
Auch die Verantwortlichen der Hochschule Merseburg wurden wiederholt von Betroffenen auf diese und weitere Diskrepanzen im Tagungs-Programm aufmerksam gemacht, zeigten jedoch kein Musikgehör. Zwar gibt's als Deckmäntelchen auch einen “Workshop 4: OP-Verbot – Konsequenzen für die chirurgische Praxis!?” – grundsätzliche Kritik an der immer noch gängigen Praxis als Folter und Genitalverstümmelung sowie eine kritische Diskussion des untauglichen “Verbots” § 1631(e) BGB entsprechend der jüngsten CCPR-Rüge sind darin laut Programm jedoch nicht vorgesehen. Und in den medizynischen Workshops dürfen die drei ÄrztInnen weiterhin ungestört ihre IGM-Propaganda verbreiten, ohne jegliches Korrektiv z.B. durch IGM-Überlebende oder sonstige -KritikerInnen.
CCPR113: Verbindliche Intersex-Empfehlungen
>>> Zusammenfassung der Intersex-Schattenberichte (deutsch)
>>> Transkripte + Videos der Staatenprüfung in Genf (deutsch
>>> Intersex-Schattenbericht 2018 (PDF, englisch)
>>> Intersex-Schattenbericht 2021 (PDF englisch)
>>> Concluding Observations (en): CCPR/C/DEU/CO/7 --> Abs. 20-21
Inoffizielle deutsche Übersetzung der verbindlichen Intersex-Empfehlungen:
Intersex-Menschen
20. Der Ausschuss ist besorgt über Berichte, wonach Intersex-Kinder manchmal invasiven, medizinisch unnötigen und irreversiblen medizinischen Eingriffen unterzogen werden, die darauf abzielen, ihnen ein Geschlecht zuzuweisen. Er ist ferner besorgt darüber, dass solche Maßnahmen häufig auf einer stereotypen Vorstellung von Geschlechterrollen beruhen, demütigende und schmerzhafte Verfahren beinhalten und durchgeführt werden, bevor die Betroffenen in der Lage sind, ihre freie und informierte Zustimmung zu geben. Er ist ferner besorgt darüber, dass die Opfer solcher Praktiken trotz dauerhafter physischer und psychischer Schäden auf erhebliche Hindernisse beim Zugang zu Wiedergutmachung stoßen, u.a. aufgrund von Verjährungsfristen, die es Opfern im Kindesalter erschweren, im Erwachsenenalter Rechtsmittel zu ergreifen, sowie aufgrund von Schwierigkeiten beim Zugang zu medizinischen Unterlagen und fehlender Entschädigung. Der Ausschuss lobt den Vertragsstaat für die Einführung des Gesetzes zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung im Jahr 2021. Er ist jedoch nach wie vor besorgt über Berichte, wonach dieses Gesetz nicht alle problematischen Praktiken ausdrücklich einschränkt, keine strafrechtliche Haftung vorsieht und nicht alle Hindernisse für den Zugang der Opfer zu Rechtsbehelfen wirksam beseitigt (Art. 2, 3, 7, 17, 24 und 26).
21. Der Vertragsstaat sollte alle erforderlichen Schritte unternehmen, um sicherzustellen, dass alle Handlungen im Zusammenhang mit der Zuweisung eines Geschlechts an Intersex-Kinder, die ohne deren freie und informierte Zustimmung vorgenommen werden, ausdrücklich verboten werden, außer in Fällen, in denen solche Eingriffe aus medizinischen Gründen absolut notwendig sind und das Wohl des Kindes gebührend berücksichtigt worden ist. Dies sollte auch die Prüfung von Änderungen des Gesetzes zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung 2021 innerhalb des für seine Überarbeitung vorgesehenen Fünfjahreszeitraums einschließen, soweit erforderlich. Der Vertragsstaat sollte auch sicherstellen, dass alle Opfer Zugang zu Wiedergutmachung haben, unter anderem durch eine Überprüfung der Verjährungsfristen für Menschenrechtsverletzungen im Kindesalter, durch Maßnahmen, die sicherstellen, dass alle Opfer Zugang zu ihren Gesundheitsakten haben, und durch die Erwägung der Einrichtung eines speziellen Entschädigungsfonds.