Auch nach der Veröffentlichung der Stellungnahme des Deutschen Ethikrates (Friedliche Aktion von Zwischengeschlecht.org vom 23.2.12) präsentiert dieser Blog weitere Highlights aus den vom Ethikrat eingeholten, öffentlich zugänglichen "Stellungnahmen von Sachverständigen".
Ulrike Klöppel verfasste ihre Doktorarbeit "XX0XY ungelöst" über "Hermaphroditismus, Sex und Gender in der deutschen Medizin", ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte der Medizin der Charité – Universitätsmedizin Berlin, Mitglied bei TGNB/TrIQ/IVIM und schreibt u.a. für die Magnus Hirschfeld Gesellschaft und die Jungle World.
In der Vergangenheit hatte dieser Blog Publikationen rsp. Auftritte Ulrike Klöppel schon konkret kritisiert, wenn wir fanden, Überlebende von kosmetische Genitaloperationen an Kindern würden darin als blosses Mittel zum Gendertheorie-Zweck erneut missbraucht, Genitalverstümmelungen in Kinderkliniken lediglich in Tätersprache abgehandelt und ihr tägliches Fortdauern (nicht nur) in Deutschland im Allgemeinen und in der Charité im Besonderen sträflich ausgeblendet.
Umso mehr freut es, dass Ulrike Klöppel in ihrer >>> schriftlichen Stellungnahme an den Deutschen Ethikrat (PDF) Klartext bringt und mit klaren Aussagen nicht spart (die der Ethikrat bekanntlich lieber nicht hören wollte). Danke!
Einige relevante Ausschnitte:
Meiner Meinung nach müsste folgende Regelung getroffen werden:
Sämtliche genitalplastischen Eingriffe sowie Sexualhormonbehandlungen, die keiner "zwingenden medizinischen Indikation" unterliegen, sondern kosmetischen Zwecken der Angleichung an ein weibliches oder männliches Idealbild dienen (im Nachfolgenden als "geschlechtsverändernde Eingriffe" bezeichnet), sind grundsätzlich bis zum Erreichen der Volljährigkeit verboten. Darunter fallen auch Klitorisresektionen (egal bei welcher "Größenabweichung" und welcher chirurgischen Technik) sowie Gonadenentfernungen, die nicht auf der Grundlage eines signifikanten Entartungsrisikos erfolgen. Ebenso müssen jegliche kosmetischen Eingriffe bei AGS, inklusive der angeblich minimalinvasiven "Introitusplastiken", verboten werden.
Auf dieser Grundlage können Ausnahmen gestattet werden, um das sexuelle Selbstbestimmungsrecht Jugendlicher zu gewährleisten, sofern sichergestellt ist:
- Einwilligungsfähigkeit des_r Jugendlichen;
- umfassende Information über mögliche körperliche und psychische kurz- und langfristigen Folgen der Eingriffe sowie über Alternativen zu geschlechtsverändernden Eingriffen;
- peer-to-peer counselling durch erwachsene intergeschlechtliche Menschen;
- von der medizinischen Betreuung unabhängige, psychologische Beratung des Kindes und der Erziehungsberechtigten.
Begründung:
1. Geschlechtsverändernde Eingriffe ohne informed consent verstoßen gegen das Menschenrecht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper. Somit verbieten sich solche Eingriffe eigentlich von selbst. Dennoch hat sich an der Behandlungspraxis bei Intergeschlechtlichkeit bislang nicht viel verändert: Sanktioniert durch das Consensus Statement on 21-Hydroxylase Deficiency von 20021 werden bei AGS weiterhin Klitorisreduktionen und Introitusplastiken im Kindesalter durchgeführt, so z.B. an der Berliner Charité. AGS ist das häufigste intergeschlechtliche Erscheinungsbild, somit kann keineswegs davon ausgegangen werden, dass in der medizinischen Betreuungspraxis bereits ein wirkliches Umdenken eingesetzt hätte. [...] Nur ein Verbot wird m.E. eine wirksame Änderung der Situation herbeiführen können: Der Normalfall muss sein, dass geschlechtsverändernde Eingriffe ohne informed consent des Betroffenen keine Option sind. Auf dieser Grundlage sind allerdings Ausnahmeregelungen nötig, die der Wahrung des sexuellen Selbstbestimmungsrechts des Heranwachsenden dienen.
2. AGS muss genauso wie andere Erscheinungsbilder von Intersexualität betrachtet und vor medizinischen Eingriffen im Kindesalter geschützt werden. [...]
4. Geschlechtsverändernde Sexualhormonbehandlungen gehören genauso verboten wie chirurgische Eingriffe, da sie ebenfalls irreversible körperliche Transformationen bewirken können. [...]
8. Psychischen und sozialen Schwierigkeiten des Kindes und der Erziehungsberechtigten im Umgang mit der Intergeschlechtlichkeit kann und muss mit anderen Mitteln begegnet werden als mit geschlechtsverändernden Eingriffen. [...] [S. 1-3]
Die Frage der "Zufriedenheit mit der Geschlechtsidentität" ist m.E. irrelevant für die Bewertung des bisherigen Behandlungsvorgehens. Maßstab muss – neben der Behandlungszufriedenheit resp. -unzufriedenheit – in erster Linie die Lebensqualität, wie sie die befragte Person selbst einschätzt, sein. Die Lebensqualität eines Menschen bestimmt sich nicht in erster Linie durch seine "Zufriedenheit mit der Geschlechtsidentität"; vielmehr können körperliche, soziale, psychische oder sexuelle Probleme unabhängig davon auftreten. Die Geschlechtsidentität sagt also nichts aus über die Lebensqualität und darf somit nicht der Maßstab des Behandlungsvorgehens sein. [S. 5f.]
>>> Chronologie Deutscher Ethikrat 2008-2013
>>> "Es wird weiter an den Genitalien von Kleinkindern geschnitten" - Eva Matt (1)
>>> "Es muss sich grundsätzlich etwas ändern" - Deutscher Hebammenverband (2)
>>> "Verjährungsvorschriften sind dringend zu überarbeiten" - Konstanze Plett (3)
>>> "Eltern dürfen nicht einwilligen" - Oliver Tolmein (4)
>>> Ethikratdiskurs: "Wie so oft wird um den heissen Brei herumgeredet"
>>> Deutscher Ethikrat: Privilegien für Genitalverstümmler, Zensur für Opfer