Nachtrag 2012/2013: Heinz-Jürgen Voß (Blog) ist einer der leider raren
Geschlechterforscher, bei dem die inhaltliche Kritik an der vereinnahmenden
Ausblendung der Menschenrechtsverletzungen an Zwittern offensichtlich nicht nur
zum einen Ohr rein und zum andern flugs wieder raus ging, sondern der die
Argumente und Quellen auch zur Kenntnis nahm, und der seither immer mal wieder
beweist, dass er seine Hausaufgaben gemacht hat und die Anliegen der
Überlebenden von kosmetischen Genitaloperationen ernst nimmt. Dafür im
Namen dieses Blogs ein ganz herzliches
Danke!
>>>
Heinz-Jürgen Voß: "Intersexualität - Intersex. Eine Intervention" (2012)
>>>
Heinz-Jürgen Voß: "Intersex: aktuelle Debatten und Entwicklungen in der BRD"
(2013)
>>> Nachtrag 1 & 2 (siehe unten)
("Wer
tötete David Reimer?")
Über David Reimers (22.08.1965–04.05.2004) tragische Geschichte muss ich hier
wohl nicht ins Detail gehen (ansonsten siehe z.B.
Süddeutsche /
Wiki /
Cicero /
FAZ).
Obwohl David Reimer nicht "intersexuell" war, ist die Widerlegung von John
Moneys Lügen über sein angeblich "erfolgreiches Zwillingsexperiment" an David
und seinem Bruder Brian durch Milton Diamond ab 1995 und John Colapinto ab 1997
eines der entscheidenden Ereignisse (wenn nicht das entscheidende
Ereignis), welches dem Kampf der sich organisierenden Zwitter gegen genitale
Zwangsoperationen, Zwangskastrationen und sonstige nicht eingewilligte
"medizinische" Zwangs-"Behandlungen" in verstärktem Masse Auftrieb,
Öffentlichkeit und Durchschlagskraft bescherte.
Wenig überraschend, dass von Seiten der "Church of Sexology" und der
(ihr meist angegliederten) "Gender/Queer/Trans*-EnthusiastInnen" verstärkt
daran gearbeitet wird, David Reimer, Milton Diamond und John Colapinto zu
diskreditieren, um im Gegenzug John Money und seine speziell für
Zwischengeschlechtliche so verhängnisvollen Gender-Thesen zu
rehabilitieren.
Eine der beliebtesten Vorgehensweisen dazu ist, John Money aus der
Schusslinie zu nehmen – und stattdessen Diamond und Colapinto die Schuld an
David Reimers Selbstmord in die Schuhe zu schieben.
So z.B. aktuell Heinz-Jürgen Voß ("Dipl.-Biologin" und Queer-Aktivist) in
seiner (ansonsten über weite Strecken lesenswerten!) Besprechung des (leider –
ausgerechnet! – mit Ausnahme der Selbsthilfe-Kontaktadressen) empfehlenswerten
neuen Buchs von Michael
Gröneberg und Kathrin Zehnder (Hrsg.): "Intersex". Geschlechtsanpassung zum
Wohl des Kindes? Erfahrungen und Analysen (in Querelles-Net.
Rezensionszeitschrift für Frauen und Geschlechterforschung). Mangels
Belegstellen operiert Voß dabei u.a. mit der rhetorischen Wendung "besser
wäre es indes":
[...] Bei dem oft betrachteten ‚Fall‘ John/Joan (bzw. Bruce/Brenda) und
der Diskussion seines Selbstmordes ist es relevant – und dies findet sich nicht
bei Richter-Appelt (S. 57) –, dass der Selbstmord im Jahr 2001 geschah, ein
Jahr nach dem Erscheinen von J. Colapintos Buch, in dem dieser ‚Fall‘
beschrieben wurde und der volle, nicht anonymisierte Name John/Joans
auftauchte. Ob das auch ein Auslöser für den Selbstmord war, ist nicht
publiziert – besser wäre es indes, John/Joan aus der Position eines ‚Belegs‘
widerstrebender medizinischer Theorien zu entlassen, wegen derer er schon
fortwährend zeitlebens befragt wurde (vgl. J. Butler in: Das Argument, 2002,
Heft 242).
Bezeichnend auch, dass Voß erst einmal das Sterbedatum von David Reimer um 3
Jahre vorverlegt, um seine "These" besser "beweisen" zu können. Zudem sind die
unmittelbaren Auslöser von David Reimers Selbstmord alles andere als
"unpubliziert" (wenn auch kaum zufällig eher selten in
"Gender-Studies"-Veröffentlichungen). Nebst dem vorangegangenen Selbstmord
seines Zwilligsbruders heisst's dazu z.B. auf S. 3 im oben verlinkten Nachruf in der
"Süddeutschen":
David Reimer heiratete schließlich eine Frau mit drei Kindern. Er
arbeitete in einem Schlachthaus und bastelte an seinem Auto herum. Doch die
Schatten des Missbrauchs in seiner Kindheit ließen ihn nicht los. Davids Frau
Jane trennte sich nach zehn Jahren von ihm, er verlor seine Stelle und viel
Geld bei Fehlinvestitionen.
Auch in diversen Interviews hatte Davids Mutter keinen Zweifel daran
gelassen, dass es letztlich John Moneys verbrecherisches "Zwillingsexperiment"
war, das David Reimers Leben kostete, wie auch das seines Bruders Brian. (Dass
David Reimers Name in Colapintos Buch "auftauchte", erfolgte übrigens
mit dessen ausdrücklicher Zustimmung. Zudem litt David Reimer wohl
"fortwährend zeitlebens" weniger daran, "befragt" zu werden
wegen "widerstrebender medizinischer Theorien" – niemand ausser Money
zwang ihn zu Interviews – als vielmehr an den handfesten Folgen von Moneys
menschenverachtendem "Experiment" inkl. Zwangskastration.)
Selbstredend, dass der von Voß geforderte Mantel des Schweigens über
Davids Leben in erster Linie den Bestrebungen der Zwitter nach Selbstbestimmung
schadet – und dafür den gewissenlosen Zwangsoperateuren und sonstigen
("Gender"-)Erben John Moneys nützt.
Kaum zufällig wird der "Colapinto/Diamond sind schuld"-Mythos auch vom
früheren Money-Mitarbeiter Prof. Dr. Friedemann Pfäfflin
regelmässig als "Tatsache" kolportiert, so z.B. in seinem angeblich objektiven
"Gutachten" zu Sabrina Schwanczars Prozess (vgl.
Dokumentation Zuschrift 2, worin Pfäfflin ebenfalls Diamond und Colapinto
sowie die Zwitterbewegung als Sündenböcke aufbaut, um gleichzeitig seinen
Kollegen Money zu entlasten – obendrein mit der "interessanten" rhetorischen
Konstruktion, die Diskreditierung als "harmlose Frage" zu tarnen, die dann
ruhig "unbeantwortet bleiben [kann]" nach dem Motto "Etwas bleibt
immer hängen" – und wie auch Voß ebenfalls mit einem diskreditierenden
Seitenhieb gegen die wegen ihrem Eintreten gegen Zwangsoperationen von vielen
Zwittern geschätzte Hertha Richter-Appelt):
Diamond nahm 1995 mit dem inzwischen 30 Jahre alten Patienten Kontakt
auf, der bis zur Pubertät als Mädchen aufgewachsen war, später aber doch als
Mann leben wollte und lebte, ohne dass seine weitere Umwelt von seiner
Vorgeschichte wusste, publizierte den Fall und vermittelte den Kontakt zu einem
Journalisten, der den Kasus zu einer Monographie verarbeitete [...], aus der
Anonymität riss und zum Paradefall einer Falschbehandlung stilisierte, an die
sich die Bewegung der Intersexuellen eng anschloss (vgl. Interview mit Milton
Diamond, geführt von Hertha Richter-Appelt am 31.1.2008 in Hamburg anlässlich
des 2. Interdisziplinären Forums für Intersexualität, Zeitschrift für
Sexualforschung, im Druck).
Dass sich der Patient schließlich als Reaktion auf den öffentlichen
Wirbel, der um ihn gemacht wurde, suizidierte, wirft die Frage auf, welcher
Teil seiner Behandlung, die ursprüngliche oder die spätere Behandlung durch die
Medien ihm wohl mehr geschadet hat, doch kann diese Frage hier unbeantwortet
bleiben.
Nachtrag 1: Wie Milton Diamond in dem paradoxerweise von
Pfäfflin erwähnten Interview mit Hertha Richter Appelt erzählt (Zeitschrift
für Sexualforschung 2008; 21; 369 – 376), wollte David Reimer "Money
damals [1997] verklagen, aber sein Fall war in den USA bereits verjährt."
(S. 174)
Ebenfalls kaum zufällig beruft sich Voss auf ein Vortrags-Transkript von
Judith Butler, auf Deutsch in "Das Argument"
erschienen als "Jemandem gerecht werden.
Geschlechtsangleichung und Allegorien der Transsexualität". Voss' und
Pfäfflins These, in Wahrheit seien Diamond und Colapinto schuld an David
Reimers Tod und nicht John Money, findet sich dort so zwar nirgends.
Was sich hingegen auch in Judith Butlers Vortrag findet, sind
Andeutungen, John Money sei besser als sein (mittlerweile verdient miserabler)
Ruf, sowie übelste Verleumdungen, wonach u.a. ausgerechnet Milton Diamond
Zwangsoperationen an Zwittern propagieren würde – letztere werden in
"feministischen" Publikationen bei Bedarf nach wie vor munter weiter
kolportiert (z.B. in Gabriele Dietzes ansonsten sehr lesenswertem Aufsatz
"Schnittpunkte. Gender Studies und Hermaphroditismus", in: Dietze /
Hark (Hrsg.): "Gender Kontrovers. Genealogien und Grenzen einer
Kategorie.", S. 46-68).
Judith Butler verdankt Money und seiner "Gender-Theorie" viel – mehr als sie
ihm Credit gibt, nämlich offiziell wohlweislich überhaupt keinen, so dass
heutzutage die meisten "Gender-Studies-AnhängerInnen" meinen, Butler habe
"Gender" erfunden. Auch mit "Moneys Institut" (wie sie es nennt), der
Johns Hopkins Uni in Baltimore, ist sie verbunden durch eine Professur kurz
nach ihrem ersten Buch "Gender Trouble". In ihrem Vortrag vom 8. Mai
2001 an der FU Berlin verteidigte sie sowohl Money persönlich wie auch
"Moneys Institut" – ebenfalls mittels einer rhetorischen "aber
lassen wir es dabei bewenden"-Figur:
Als der Fall vor Kurzem in die Presse kam, kritisierten PsychiaterInnen
und praktische ÄrztInnen das Auftreten von Moneys Institut. Sie beanstandeten
vor allem Joans Indienstnahme als Beleg für Auffassungen von einer Neutralität
der Geschlechtsidentität in der frühen Kindheit, einer Formbarkeit der
Geschlechtsidentität und einer vorrangigen Rolle der Sozialisation bei der
Herstellung der Geschlechtsidentität. Genau genommen ist das nicht alles, woran
Money glaubt, aber lassen wir es dabei bewenden.
Dass Butler zudem Diamond durchgehend als angeblichen Propagandist von
Zwangseingriffen "denunziert", ist für mit der Materie Vertraute zwar nur noch
lächerlich, hat aber System. Und ist zudem ebenfalls im Vortag von Butler kaum
zufällig noch nicht mal seriös belegt, sondern lediglich mit einem einzelnen
Zeitungsartikel, der zudem mutwillig "als Knabe erziehen" mit "zu
einem Knaben zwangsoperieren" "verwechselt", sowie mit einem Kapitel aus
"Sexing the Body" von Fausto-Sterling, in welchem Diamond gar nicht
erwähnt wird – auch wenn Fausto-Sterling wohl mit Butler (und auch Voss)
gemeinsam hat, dass ihnen "Gender-Fragen" und (ihre eigene) "Gender-Identität"
wichtiger sind als ein raschestmögliches Ende der menschenrechtswidrigen
Zwangsoperationen an Zwittern ...
Auch wenn Milton Diamond als menschliches Wesen keineswegs unfehlbar ist,
eine solch ungeheuerliche Behauptung wie diejenige Butlers, Diamond propagiere
Zwangseingriffe an Zwittern, war im Jahre 2001, als Butler in Berlin ihren
Vortrag hielt, klar nicht mehr mit Unwissenheit oder einem ehrlichen Versehen
zu entschuldigen zu zahlreich sind gegenteilige Quellen.
Tatsache ist, dass Milton Diamond wohl derjenige Sexologe ist, der
sich zumindest seit 1997 bis heute weltweit unermüdlich am nachhaltigsten gegen
Zwangsoperationen und sonstige uneingewilligte Zwangs-"Behandlungen" an
Zwittern einsetzt (zweifellos mehr als Voss, Butler und
Fausto-Sterling zusammen – von Money und Pfäfflin ganz zu schweigen),
wofür ihm weltweit praktisch alle Zwitter zutiefst dankbar sind (vgl.
z.B. ISNA oder
Intersexuelle Menschen e.V.)
Butler verbreitet selbstredend ihrerseits genau dieselbe
Tasachenverdrehung auch über Cheryl Chase/ISNA:
[...] Diamond habe den Fall benutzt, um daraus eine Begründung für die
operative Behandlung von Intersexen abzuleiten [...] Auf Angiers Frage, ob sie
Diamonds Empfehlungen zur operativen Behandlung von Intersexen zustimme,
antwortet Chase: ‘Die können sich nicht vorstellen, jemanden einfach in Ruhe zu
lassen.’
Ebenso wird auch Colapinto von Zwittern in aller Welt für seine
Verdienste hoch geschätzt und sein Buch auf praktisch allen einschlägigen Pages
empfohlen (z.B. eins
/ zwei
>> recommended resources / drei / vier).
Heinz-Jürgen Voß produziert
hingegen trotz allem ev. guten Willen Texte wie z.B.
"Geschlecht: Gender is Sex" (Rosa. Zeitschrift
für Geschlechterforschung 36, Februar 08, S. 35-37 (Editorial & PDF-Download
Inhaltsverzeichnis) -->
Online-Volltext der ursprünglichen Version in neuroticker 13, September
2007), quasi eine etwas ausführlichere Blaupause für die
Instrumentalisierung von Zwittern durch Transgender als
"mehr-geschlechter.de" (vgl.
>>> 6. Transgender), aber nach dem selben
Motto:
Erstmal sichere ich mir die Aufmerksamkeit des Publikums durch Hinweis
auf die krassen Menschenrechtsverletzungen an Zwittern, um danach sogleich
umzuschwenken auf den "Geschlechterzwang, dem wir alle unterworfen sind" und
sodann exklusiv auf meine eigenen Transgender-Queer-Partikularinteressen
(Abschaffung des Geschlechtereintrags via 3. Geschlecht) – wenn ich dann
später mal nach Belieben mein legales Geschlecht ändern oder weglassen kann und
der "konstruierte Geschlechterzwang" so "beseitigt" ist, ist den Zwittern ja
ev. auch geholfen – wo die Zwitter bis dahin (und auch danach) abbleiben, ist
mir sch...egal ...
Ein Motto, das wohl auch Butler &
Co. jederzeit unterschreiben – und nicht nur sie:
Viele Zwangsoperateure rechtfertigen ihre Verbrechen
bekanntlich ebenfalls auf genau dieselbe Tour: Solange "die
Gesellschaft" die Geschlechter nicht abschafft, gehen uns die Menschenrechte
der Zwitter am A... vorbei ...
Nachtrag 2: Siehe auch Diskussion
im Vereinsforum!
Nachtrag 2012/2013: Heinz-Jürgen Voß (Blog) ist einer der leider raren
Geschlechterforscher, bei dem die inhaltliche Kritik an der vereinnahmenden
Ausblendung der Menschenrechtsverletzungen an Zwittern offensichtlich nicht nur
zum einen Ohr rein und zum andern flugs wieder raus ging, sondern der die
Argumente und Quellen auch zur Kenntnis nahm, und der seither immer mal wieder
beweist, dass er seine Hausaufgaben gemacht hat und die Anliegen der
Überlebenden von kosmetischen Genitaloperationen ernst nimmt. Dafür im
Namen dieses Blogs ein ganz herzliches
Danke!
>>>
Heinz-Jürgen Voß: "Intersexualität - Intersex. Eine Intervention" (2012)
>>>
Heinz-Jürgen Voß: "Intersex: aktuelle Debatten und Entwicklungen in der BRD"
(2013)
Siehe auch:
-
Genitalverstümmelung & Gendertheorie: Hirschfeld-Money-Butler
-
Instrumentalisierung von Zwittern: Kritik aus 2002
-
Heinz-Jürgen Voß in "Liminalis" 3 (2009) – Zwitter-Vereinnahmung wie gehabt
...
-
Warum Zwitterforderungen, worin zu oberst nicht die schnellstmögliche
Beendigung der Zwangsoperationen steht, keine Zwitterforderungen sind, sondern
Vereinnahmung
-
Vereinnahmung von Zwittern: Das Transgender-Netzwerk Berlin TGNB macht's vor
...
-
QueerGrün missbrauchen Zwittersymbol für TSG-Kampagne
-
"Intersexualität" = sexuelle
Orientierung?!
-
Die Rede von der "psychischen Intersexualität"