>>> Nachtrag:
Entsprechender Beschluss auch in Deutschland!
Eine
Anerkennung und Verurteilung der Menschenrechtsverletzungen an Zwittern durch
bekannte Menschenrechtsorganisationen und entsprechende solidarische Schritte
und Aktionen könnten die Beendigung der kosmetischen
Genitaloperationen und sonstigen uneingewillligten, medizinisch nicht
notwendigen Zwangsbehandlungen an Zwittern entscheidend beschleunigen.
Seit 14 Jahren lobbyieren deshalb organisierte deutschsprachige Zwitter
zunächst in Deutschland, später auch in der Schweiz und in Österreich die
etablierten Menschenrechtorganisationen und ersuchten sie immer wieder um
Unterstützung im Kampf gegen die
menschenrechtswidrigen Genitalverstümmelungen an Zwitterkindern. Auch
Zwischengeschlecht.org wurde in den
letzten 2 Jahren mehrfach bei internationalen Organisationen vorstellig und
forderte sie zu konkreten Schritten auf.
Am letzten Sonntag hat nun mit Amnesty Schweiz zum allerersten Mal eine der
angesprochenen Menschenrechtsorganisationen grundsätzlich reagiert. In
einer historischen, einstimmig (!) überwiesenen Motion
(PDF) forderte die
Generalversammlung 2010 der Sektion Amnesty Schweiz die Dachorganisation
Amnesty International auf, endlich eine offizielle Position zu den
Menschenrechtsverletzungen an Zwittern zu erarbeiten. Damit ist ein
nicht zu unterschätzender, wichtiger Anfang gemacht!
Auch die Sektion Deutschland wird an Pfingsten 2010 über eine ähnliche
Motion beraten, weitere werden hoffentlich folgen.
Der Weg dazu war jedoch langwierig und alles andere als einfach.
Bereits 1996 fragte Michel Reiter (entsprechend dem
Beispiel von US-Selbsthilfe- und Lobbyorganisationen wie Intersex Society of North America (ISNA) und "Bodies like ours") im Namen der
Arbeitsgruppe gegen Gewalt in
der Pädiatrie und Gynäkologie (AGGPG) Terre des Femmes und Amnesty
International konkret um Unterstützung an, wenn auch vergeblich:
Weltweit wurden Anti-FGM-Organisationen, Einzelkämpferinnen und
Menschenrechtsverbände angeschrieben, informiert und um Mitarbeit bzw.
Kooperation gebeten. Keines dieser Schreiben hatte den gewünschten Erfolg. So
schreibt z.B. Fran Hosken, durch den 'Hosken Report' bekannt geworden, daß sich
ihr Interesse in der Beendigung von FGM nicht auf 'biologische Ausnahmen'
erstreckt (10/93, Holmes 1995, S. 4). Forward International, eine wichtige
Anti-FGM-Organisation, betont, daß der ihnen zugesandte Brief zwar 'sehr
interessant' sei, aber sie können nicht helfen, da ihre Arbeit nur FGM
beleuchtet, welche als schädliche kulturelle oder traditionelle Praktik an
jungen Mädchen durchgeführt wird (Chase 1997, S. 11). Terre des Femmes entzieht
sich seit März 1996 einer Stellungnahme, intern wurde argumentiert, Betroffene
hätten keine Kompetenz. Amnesty International, Sektion Deutschland, meinte im
Oktober 1996, die AGGPG solle die Geschehnisse hinsichtlich einer Beurteilung
als Folter stärker differenzieren und wünschte uns "alles Gute und viel Kraft
auf einem äußerst schwierigen Weg". Diese Reaktionen, sofern überhaupt
Antworten erfolgen, wiederholen sich stereotyp. (Michel Reiter: "It's easier to make
a hole than to build a pole")
2009 bat Daniela "Nella" Truffer im Namen der
Menschenrechtsgruppe Zwischengeschlecht.org Amnesty Deutschland und Amnesty
Schweiz ebenfalls konkret
um Unterstützung und hakte anschliessend mehrfach nach. Nach einigen
harzigen Anläufen wurde Zwischengeschlecht.org schliesslich im März 2010 von
Amnesty Schweiz zur Ausarbeitung eines konkreten Motionstextes
konsultiert. Das letztliche Resultat kann sich meiner Meinung nach sehen
lassen:
FORDERUNG:
Vorstand und Geschäftsleitung der Schweizer Sektion setzen sich auf
Ebene der internationalen Struktur von Amnesty aktiv für eine klare
Positionierung von Amnesty zum Thema „Intersexualität und Menschenrechte“
ein.
BEGRÜNDUNG:
[...]Wir erachten genitale Zwangsoperationen für ein schweres
Verbrechen, das gegen die Menschenrechte auf körperliche Unversehrtheit,
Selbstbestimmung und Würde verstösst. Genitale Zwangsoperationen sind schwere
medizinische Eingriffe an Kindern mit gesunden, aber sogenannten nicht
eindeutigen Geschlechtsmerkmalen, die ohne die Einwilligung der Betroffenen
vorgenommen werden. Die Folgen von chirurgischen und medikamentösen Eingriffen
werden von den Betroffenen oft als Verstümmelungen wahrgenommen. Die
Suizidrate bei operierten und hormonbehandelten Intersexuellen ist stark
erhöht; auch verstösst die Zuweisung zum explizit männlichen oder weiblichen
Geschlecht gegen die Menschenrechte auf körperliche Unversehrtheit,
Selbstbestimmung und Würde, die nicht nur bei Female Genital Mutilation (FGM)
in Entwicklungsländern, sondern weiterhin auch bei genitalen Zwangsoperationen
in Industrieländern verletzt werden. [...]
Notwendig ist auch eine gezielte und koordinierte Öffentlichkeits- und
Aufklärungsarbeit, was Intersexualität betrifft. Eine enge Zusammenarbeit mit
Selbsthilfeorganisationen der Intersexuellen ist deshalb zentral. Da sich
Intersexuelle in den letzten Jahren vermehrt zu organisieren begonnen haben, um
sich für ihre Menschenrechte zu wehren, sind wir zunehmend aufgefordert, uns
zu positionieren und die organisierten Intersexuelle in ihren Bemühungen zu
unterstützen. [...] (Motion 6:
"Position zur Intersexualität" – PDF)
Besonders hat uns auch gefreut, dass die Begründung der von Amnesty Schweiz
überwiesenen Motion weiter festhielt, dass eine Einordnung der an Zwittern
begangenen Menschenrechtsverletzungen z.B. unter die Rubrik "Sexuelle
Identität" dazu führen kann, dass "oft verkannt [wird], dass
Menschenrechtsverletzungen an Intersexuellen in erster Linie genitale
Zwangsoperationen bedeuten und weniger Gender- und Identitätsfragen."
Dies lässt hoffen, dass in Zukunft vermehrt schwerwiegende
politische Schäden für Zwitteranliegen verhindert werden können, wie
sie
aktuell im deutschen Bundestag angerichtet werden, wo Schwulen- und
Lebseninteressegruppen den Begriff "Intersexuell" für ihre eigenen politischen
Anliegen missbrauchen – während die gleichen Interessegruppen
tatenlos zusehen, wie Zwitter vor ihrer Haustüre täglich weiter
genitalverstümmelt werden, und widerspruchslos hinnehmen, dass
Genitalverstümmelungen an Zwittern im neuen
Gesetzesentwurf gegen (weibliche) Genitalverstümmelung nicht einmal erwähnt
werden.
Auch wenn es zur Verhinderung weiterer solcher Schäden zunächst wohl noch
einer ganzen Menge Aufklärungs- und Lobbyarbeit bedarf.
Die Motion war im Vorfeld sowohl vom Vorstand wie auch von der
Geschäftsleitung von Amnesty Schweiz befürwortet worden. Am letzten
Sonntag, den 25.4.10 warteten dann Nella und ich an der Generalversammlung von
Amnesty Schweiz in Fribourg/Freiburg auf den entscheidenden Augenblick. Nachdem
Vera Huotelin von Queeramnesty die Motion den Anwesenden kurz erläutert hatte,
kam der Augenblick der Wahrheit. Und was für einer: Um 14:06 Uhr wurde
die Motion einstimmig angenommen!
Dies ist zwar erst ein Anfang: Als nächstes muss die
Dachorganisation Amnesty International die Motion an die Hand nehmen und den
Auftrag umsetzen, sprich eine offizielle Position betreffend der
Menschenrechtsverletzungen an Zwittern erarbeiten. Dies wird leider nicht von
heute auf morgen geschehen, und auch nicht von diesem Monat auf den nächsten,
und es wird auch für Zwitter-Organisationen wohl eine Menge weiterer
(Lobby-)Arbeit bedeuten.
Trotzdem war die diesjährige Generalversammlung von Amnesty Schweiz
ein historischer Moment für die Zwitterbewegung, dessen
Bedeutung nicht unterschätzt werden sollte: Nach 14 Jahren Lobbyarbeit
organisierter Zwitter und solidarischer Nichtzwitter wurde endlich ein erster
konkreter Schritt getan!
Wir möchten an dieser Stelle sämtlichen direkt und indirekt
Beteiligten ganz herzlich dafür danken, sowie speziell Vera Huotelin von
Queeramnesty und Romeo Rosen vom
Sündikat!
Und es kommt noch besser: Auch die Sektion Deutschland wird an ihrer
Hauptversammlung vom 21.-24.5.10 in Magdeburg über eine entsprechende Motion
abstimmen.
Bereits 2009 hatten übrigens Terre des Femmes
Schweiz und Amnesty Schweiz unabhängig voneinander in
der Vernehmlassung zu einem Gesetzesvorschlag gegen weibliche
Genitalverstümmelung ausdrücklich auch ein
Verbot von genitalen "Zwangsoperationen von
Zwischengeschlechtliche Betroffenen" gefordert und bedauert,
dass diese nicht auch in den Gesetzesentwurf eingeschlossen wurden.
Nachtrag: Inzwischen hat auch die Deutsche Sektion
einen entsprechenden Vorstoss verabschiedet.
Siehe auch:
-
Zwangsoperationen an Zwittern: Bundesregierung beugt Grundgesetz Art. 2
(Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit)
-
Kosmetische Genitaloperationen an Kindern: Gesetzgeber gefordert
-
Genf: UNO mahnt Bundesregierung
-
Zwitter und progressive LGBTs gegen Vereinnahmung
-
Amnesty Deutschland: Ebenfalls historischer Entscheid für "Menschenrechte auch
für Zwitter!"