Das Podium (v.l.n.r.): Prof. Dr. Benjamin-Immanuel Hoff (Thüringer Minister für Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten und Chef der Staatskanzlei), Ev Blaine Matthigack (OII/IVIM, Peer-Berater_in und die einzige Intersex-Person), Mari Günther (Leiterin Inter* und Trans*Beratungsstelle Berlin), Prof. Dr. Felicitas Eckoldt (Direktorin Kinderchirurgie Universitätsklinikum Jena, AWMF-D$D-Leitlinien-Co-Koordinatorin), Moderator Ulrich Sondermann-Becker (MDR und Vorsitzender der Thüringer Landespressekonferenz)
Auf Einladung der Staatskanzlei Thüringen (PDF) fand am 09.03. in Berlin (einmal mehr) ein "Fachgespräch Intersexualität" statt als begrüßenswerte, themenbezogene öffentliche Konsultation zur aktuellen Erarbeitung des "Landesprogramms für Akzeptanz und Vielfalt" durch die regierende Koalition (Linke, SPD, Grüne).
Auf dem Programm stand ein Vortrag (>>> Folien PDF, 1.1 MB) der Kinderchirurgin und Leitlinien-Co-Koordinatorin Felicitas Eckoldt zur auf den 1. April angekündigten, neuen AWMF-DSD-Leitlinie 174/001 mit anschließender Diskussion, "in welchem Maße Anliegen von Betroffenen [in der Leitlinie] aufgegriffen werden konnten, welche Fragen noch zu klären sind und wie Beratungsangebote gestaltet werden sollten" , inkl. Beiträgen aus dem Publikum von Michaela Katzer (Fachärztin für Urologie, Hochschule Merseburg, Buchherausgeberin), Lucie Veith (Intersexuelle Menschen e.V.), Markus Bauer (Zwischengeschlecht.org), Janik Bastien-Charlebois (Uni Montréal, OII) und Jörg Woweries (Kinderarzt).
In seiner Einleitung verwies Minister Benjamin-Immanuel Hoff u.a. auf die einschlägigen Intersex-Stellungnahmen der Gleichstellungs- und FamilienministerInnenkonferenz (GFMK), der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) und der Bundesärztkammer (BÄK), sowie auf die derzeitige Interinisterielle Arbeitsgruppe (IMAG) (die das Thema seit 1 1/2 Jahren vor sich herschiebt, vgl. CRPD-Schattenbericht und Berliner Zeitung). Weiter erwähnte er im späteren Verlauf die Kleine Anfrage der AfD in Thüringen (Ds 6/1191, PDF) u.a. zur Zahl Intersex-Menschen im Freistaat. Thüringen sei sehr bestrebt, die Situation von Intersex-Menschen zu verbessern, auch über die Landesgrenzen hinaus durch Einflussnahme auf Bundesebene, etwa im Bundesrat, und in Zusammenarbeit mit anderen Ländern. Allerdings sei auf Bundesebene in dieser Legislaturperiode nicht mehr mit Durchbrüchen zu rechnen, und die politische Großwetterlage sei eher ungünstig. Für sein Ministerium sei die heutige Veranstaltung in erster Linie eine Weiterbildung dazu, was getan werden könne und soll. In diesem Zusammenhang begrüßte Hoff ausdrücklich die Anwesenheit zahlreicher Expert_innen im Publikum.
Kinderchirurgin Felicitas Eckoldt (Jena) betonte die betreffend Intersex überregionale Ausrichtung der Jenaer Kinderchirurgie; sie habe PatientInnen bis nach Hamburg und Westdeutschland und arbeite betreffend psychologischer Betreung mit Berlin zusammen. In ihrem Vortrag (>>> Folien PDF, 1.1 MB) präsentierte sie eine Einführung aus mediznischer Sicht sowie Auszüge aus der auf 1. April angekündigten neuen AWMF-DSD-Leitlinie 174/001. Diese sei bereits konsentiert, jedoch noch in reaktioneller Überarbeitung. Wie sich schon abzeichnete, ist diese nach nochmaliger grundlegender Überarbeitung im Vergleich mit früheren Leitlinien zwar (relativ) fortschrittlich, lässt aber immer noch viele Schlupflöcher für uneingwilligte, medizinisch nicht notwendige, irreversible Eingriffe an Intersex-Kindern. Weiterhin sollen auch die Mitteilung der Diagnose (und damit effektiv die erste Beratung der Eltern) das Vorrecht "des betreuenden Arztes / der Ärztin" bleiben (Empfehlung 24, Folie 15) – trotz der bekannten Folgen. Für Eckoldt wenig überraschend räumte sie sowohl im Vortrag wie auch nachfolgend in der Diskussion der unbeirrbaren Verfechtung von unnötigen Eingriffen an Säuglingen, besonders der Forderung nach "einzeitigen Operationen um den 1. Geburtstag herum" (d.h. Klitoristeilamputation, Harnröhrenverlegung, Vaginal- und Labialplastik) deutlich überproportional Platz ein (vgl. Folie 19); auch in der Diskussion behauptete Eckoldt tatsachenwidrig, frühe Harnröhrenverlegungen und Vaginalplastiken bei "AGS-Mädchen" seien eine "medizinische Indikation" (Transkript folgt). Betreffend angeblich "hohem Krebsrisiko bei PAIS von 50%" führte Eckoldt bezeichnenderweise einzig Zahlen aus einer Metastudie von 2007 an, welche zu PAIS lediglich 2 Studien mit gerademal 24 Proband_innen einschloss, unterschlug jedoch die umfassenderen Metastudien von 2006 und 2010 mit 3 berücksichtigten Studien und insgesamt 80 Proband_innen, welche auf lediglich 15% Krebsrisiko kamen, vgl. hier --> 4. Krebsrisiko (Dank an Janik Bastien-Charlebois für den Hinweis!). Ebenfalls klar tatsachenwidrig war Eckoldts Behauptung, es seien angeblich "alle" Intersex-Organisationen vom Leitliniensekretariat zur Zusammenarbeit angefragt worden – Zwischengeschlecht.org z.B. wurde entgegen früherer Versprechungen (PDF --> S. 14) nie angefragt (trotz Kontakte sowohl mit der Leitlinien-Co-Koordinatorinnen wie auch mit dem Leitliniensekretariat). Immerhin heißt die Leitlinie nun tatsächlich "Varianten der Geschlechtsentwicklung" (und nicht mehr "Störungen").
Ev Blaine Matthigack verwies auf das vom Europarat-Kommissar für Menschenrechte publizierte CoE Issue Paper "Human rights and intersex people" (2015) und kritisierte die seit 66 Jahren andauernden Behandlungsprotokolle. Betreffend dem in der neuen Leitlinie immer noch favorisierten Vorrecht "des betreuenden Arztes / der Ärztin" auf Erstbetreuung der Eltern ("Mitteilung der Diagnose") verwies sie auf die bekannte prospektive Studie von Streuli et al. über die Folgen solcher medikalisierter "Beratung". Betreffend Eckoldts Ausführungen zu angeblich "medizinischer Indikation" für frühe OPs bei "AGS-Mädchen" verwies Matthigack auf die menschenrechtliche Widerlegung durch Beate Rudolf (Deutsches Institut für Menschenrechte) anläßlich des Fachgesprächs im Familienausschuss 2012. Sie höre von den einen Betroffenen, dass es schön gewesen sei, dass sie selbst hatten entscheiden dürfen, während umgekehrt erwachsene Betroffene, über die im Kindesalter entschieden wurde, oft ein Leben lang darunter litten, dass sie sich fragen müssen, "was wäre (gewesen) wenn?" Weiter wies sie auf die Zusammensetzung der interdisziplinären Expertengruppe in Malta hin, bestehend aus 3 ÄrztInnen, 3 EpertInnen aus dem psychosozialen Bereich, und 3 ExpertInnen aus dem Menschenrechtsbereich; eine Entscheidungsfindung dauert mindestens 3 Jahre, was aber auf 6 Jahre verlängert werden kann.
Mari Günther bedauerte, dass nur 2 Intersex-Organisationen an der Leitlinie beteiligt wurden, und wies auf die kulturelle, geographische und historische Relativität "richtiger" Gechlechtsteile hin.
Michaela Katzer wies darauf hin, dass die AGS Eltern- und Patienteninitiative (welche lautstark uneingewilligte kosmetische Genitaloperationen an Kleinkindern fordert) zwar in einigen Teilbereichen gute Arbeit leiste, aber eben nicht nur, und dass nicht alle AGS-Betroffenen sich in dieser Organisation wiederfänden, sondern dass Betroffene sich oft in anderen Selbsthilfegruppen besser verstanden fühlen. Aus ihrer eigenen Berufserfahrung kenne sie AGS-Betroffene mit Prader 4 oder 5 (d.h. mit stark bis komplett "vermännlichtem" äußeren Genitale), die keine Komplikationen erlebten bis ins junge Erwachsenenalter, wo sie dann selbst darüber entscheiden können, ob sie Operationen wollen oder nicht. Demgegenüber hätten Betroffene, über die im Kindeslter entschieden wurde, anderes erlebt; zwar würden sie meist nicht ihren (weiblichen) Geschlechtseintrag in Frage stellen, litten aber unter Traumatisierungen und Einschränkungen durch nicht-eingewilligte Operationen. Wichtig sei zu schauen, ob medizinische Probleme (wie Blasenentleerungsstörungen oder fieberhafte Harnwegsinfektionen) auch wirklich aufträten, was klar nicht bei allen der Fall sei. Es sollte deshalb nicht der Imperativ des pädiatrisch-chirurgisch Möglichen, sondern ein Imperativ des unaufschiebbar Notwendigen in den Vordergrund gestellt werden.
Lucie Veith wies auf Handlungsbedarf im Schulunterricht in naturwissenschaftlichen und ethischen Fächern hin, und unterstrich die Verpflichtung auch der Bundesländer, z.B. die UN-Kinderrechtskonvention umzusetzen. Weiter unterstrich sie, dass vorliegend zwar darüber diskutiert werde, wie die Versorgung künftig aussehen soll, aber dass nicht darüber geredet wird, "welches Elend im Land herrscht, und wie schlecht die Menschen medizinisch versorgt sind. Die Menschen, die diese Behandlungen in der Vergangenheit gehabt haben, die leben heute in unseren Bundesländern, und die haben keinen Zugang zu medizinischer Versorgung. Das ist eine Diskriminierung, die schreit zum Himmel, und der muss ganz schnell abgeholfen werden. [...] Da eine medizinische Leitlinie keine rechtlichen Verpflichtungen hat, wäre es wahnsinnig wichtig, dass auch das Land Thüringen über den Bundesrat die Länder mit unterstützt, die ein Verbot, das ist jetzt auch in der interministeriellen Arbeitsgruppe, das muss beflügelt werden, dass wir ein Verbot von genitalverstümmelnden Operationen an Kindern haben, dass klargestellt wird, dass intersexuelle Kinder beim Beschneiudngsverbot nicht ausgenommen sind. Denn diese Kinder werden nie zu ihrem Recht kommen, wenn wir nicht den rechtlichen Rahmen für die strafrechtliche Verfolgung stellen. Ich denke, das ist ein ganz wichtiger Aspekt, der mitbedacht werden muss. [...] Die Menschenrechte sind noch längst nicht erreicht."
Markus Bauer (>>> vollständiges Transkript) verwies auf die bisher 10 UN-Rügen und verbindlichen Empfehlungen zu Intersex-Genitalverstümmelungen, namentlich durch den UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes, der IGM als "schädliche Praxis" und Verletzung der Kinderrechtskonvention einstuft (und damit als vergleichbar mit FGM), und durch den UN-Ausschuss gegen Folter, der IGM als "unmenschliche Behandlung" klassifiziert, die gegen das Folterverbot verstößt, und dass alle Rügen nicht nur ein strafrechtliches Verbot fordern, sondern auch Gesetze zur Sicherstellung des Zugangs zu Justiz und Entschädigung für Überlebende, wozu auch die Verjährungsfristen angepasst werden müssen, und verwies dazu weiter auf die langjährige Forderung nach Einrichtung eines Entschädigungsfonds. Weiter hob er die Notwendigkeit einer historischen Aufarbeitung der medizinischen Praxis hervor, wo es durchaus auch auf Länderebene Handlungsmöglichkeiten gibt, sowie die Versicherungslücken für bereits geschädigte Betroffene z.B. bei der Traumabewältigung (>>> vollständiges Transkript).
Janik Bastien-Charlebois fragte Prof. Eckoldt, ob die medizinische Praxis auch die Menschenrechte auf Selbstbestimmung und Würde intergeschlechtlicher Menschen beachten müsse (was Eckoldt bejahte).
Dr. med. Jörg Woweries (eins | zwei) (>>> vollständiges Transkript) betonte, Ausdrücke wie "Krankheit" oder "Fehlbildung" seien im vorliegenden Zusammenhang nicht angemessen. Und mahnte an, dass laut ihm vorliegenden Zahlen des statistischen Bundesamtes bei "verweiblichenden" kosmetischen Genitaloperationen (IGM 2: Klitoristeilamputationen, Vaginalplastiken) von 2005-2014 keinerlei signifikante Veränderungen zu beobachten seien. Speziell "AGS-Mädchen" werden bis zum 15. Lebenjahr unverändert "zu über 95%" kosmetisch genitaloperiert.
[ Zwischengeschlecht.info konnte Woweries' Statistiken vor Ort einsehen – bei den von ihm erwähnten GenitalOPs (IGM 2+3) erfolgten zusätzlich die meisten unverändert im 1. Lebensjahr! – "Vermännlichende" GenitalOPs (IGM 1) blieben in Woweries' Untersuchung leider unberücksichtigt. ]
Auch wurden bei mehreren Kindern unter 1 Jahr immer noch die Hoden entfernt (IGM 3), auch in Universitätskliniken, und obwohl im 1. Lebensjahrzehnt hierzu unbestritten nie eine Indikation besteht. Diesbezüglich machte Woweries auch ein Fragezeichen zur Leitlinienforderung, Intersex nur noch in sog. "Kompetenzzentren" zu "behandeln", und rügte, dass in Deutschland nicht weniger als 66 Kliniken sich als "Kompetenzzentren für seltene Krankheiten" bezeichnen (worunter die Medizin Intersex zählt). "Also es sind auch grosse Einrichtungen, die völlig versagen." (>>> vollständiges Transkript)
>>> Intersex-Genitalverstümmelungen (IGM): Typische Diagnosen und Eingriffe
>>> IGM – eine Genealogie der TäterInnen
>>> Zwangsoperierte Zwitter über sich selbst und ihr Leben
>>> Dr. med. Jörg Woweries: "Weder Evidenz noch medizinische Indikation"
>>> «Entsetzt über das, was ich tat» - Interview mit Dr. med. Jörg Woweries
Siehe auch:
- Offener Brief mit 227 Unterschriften zur neuen AWMF-Intersex-D$D-Leitlinie
- Leitlinien-Interview mit Susanne Krege im Spiegel 22/2014: "kurz vor Pubertät operieren"
- Vortrag Leitlinienverantwortliche F. Eckoldt 13.09.2014: "AGS möglichst früh operieren"
- DSD neu ohne "Störungen": Antwort der AWMF-Leitlinienkoordination auf den Offenen Brief
- AWMF-Intersex-Stellungnahme weckt große Hoffnungen - doch sind diese auch berechtigt?
- "Schädliche Praxis" und "Gewalt": UN-Kinderrechtsausschuss (CRC) verurteilt IGM
- "Unmenschliche Behandlung": UN-Ausschuss gegen Folter (CAT) verurteilt IGM
- UN-Menschenrechtsausschuss (HRCttee) untersucht IGM-Praktiken
- "Nur die Angst vor dem Richter wird meine Kollegen dazu bringen, ihre Praxis zu ändern"
- UN-Behindertenrechtsausschuss (CRPD) kritisiert IGM-Straflosigkeit in Deutschland
- CAT 2011: Deutschland soll IGM-Praktiken untersuchen und Überlebende entschädigen
Input von Daniela Truffer zum "Fachtag Intersex"
• IGM Überlebende – Danielas Geschichte
• Historischer Überblick:
"Zwitter gab es schon immer – IGM nicht!"
• Was ist Intersex? • Was sind IGM-Praktiken?
• IGM in Hannover • Kritik von Betroffenen • u.a.m.
>>> PDF-Download (5.53 MB)